Michaela Benthaus: Erste Rollstuhlnutzerin über Kármán

Michaela Benthaus: Erste Rollstuhlnutzerin über Kármán

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Die deutsche Luft- und Raumfahrtingenieurin und Mechatronikerin Michaela Benthaus schrieb am Samstag Raumfahrtgeschichte: Als erste Rollstuhlnutzerin überquerte sie die Kármán-Linie auf einem kommerziellen suborbitalen Flug. Ihre rund zehnminütige Reise an Bord von Blue Origins New Shepard zeigt gleichermaßen den technologischen Fortschritt im privaten Raumfahrt-Tourismus und die nach wie vor bestehenden Herausforderungen für eine barrierefreie Raumfahrt, die Menschen mit Behinderungen einbeziehen muss. Der Flug hat damit nicht nur symbolischen Wert, er liefert auch konkrete Anregungen für Ingenieure, Betreiber und Politik, die Zugänglichkeit von Trägersystemen, Kabinen, Bodeneinrichtungen und Trainingsprogrammen zu verbessern.

Ein historischer Meilenstein oberhalb der Kármán-Linie

Blue Origin zündete die New Shepard-Rakete am Morgen um 8:15 Uhr Ortszeit (14:15 GMT) von der Firmenanlage in Westtexas. Der Flug verlief vollständig automatisiert: Die bemannte Kapsel wurde vertikal gestartet, erreichte die international anerkannte Grenze des Weltraums — die Kármán-Linie — und trennte sich anschließend vom Antriebsteil, um unter Fallschirmen zur Erde zurückzugleiten. Solche suborbitalen Profile sind technisch weniger komplex als Orbitalflüge, erfordern aber präzise Steuerung und zuverlässige Rückkehrmechanismen, insbesondere wenn Passagiere an Bord sind.

Michaela Benthaus war Mitglied der Besatzung NS-37 und brachte nicht nur ihre fachliche Expertise als Ingenieurin bei der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ein, sondern auch persönliche Erfahrungen aus dem Alltag mit einer Mobilitätseinschränkung nach einer Rückenmarksverletzung infolge eines Mountainbike-Unfalls. Ihre Teilnahme löste international große Aufmerksamkeit und viele positive Reaktionen in sozialen Medien aus; unter den Gratulanten befand sich auch der private Astronaut Jared Isaacman, der in seinen Beiträgen den inspirierenden Charakter der Mission hervorhob. Solche Reaktionen fördern die Sichtbarkeit von Fragen zur Inklusion in Raumfahrtprojekten und unterstreichen, wie wichtig Repräsentation für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Raumfahrt ist.

Warum dieser Flug für Barrierefreiheit und Repräsentation wichtig ist

Benthaus hat wiederholt öffentlich über die Hindernisse gesprochen, denen sie nach ihrem Unfall begegnete: „Nach meinem Unfall habe ich wirklich, wirklich festgestellt, wie unzugänglich unsere Welt noch ist.“ Sie ergänzte: „Wenn wir eine inklusive Gesellschaft sein wollen, sollten wir in allen Bereichen inklusiv sein — nicht nur in den Teilen, die uns angenehm sind.“ Diese Aussagen verlagern die Diskussion von rein symbolischen Gesten hin zu konkreten Anforderungen an universelles Design, inklusive Bedienoberflächen, ergonomische Haltevorrichtungen in Kabinen, Stauraumlösungen für Hilfsmittel und barrierefreie Zugänge zu Start- und Trainingsanlagen.

Aus technischer Perspektive bedeutet Barrierefreiheit in der Raumfahrt mehr als einen rollstuhlgerechten Einstieg: Es geht um Systeme, die verschiedene Körpergrößen, Mobilitätsgrade und sensorische Bedürfnisse berücksichtigen. Dazu zählen verstellbare Sitz- und Gurtsysteme, modulare Fixierungen für Assistenztechnik, Schnittstellen für taktile und auditive Benachrichtigungen sowie Notfallprozeduren, die Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten sichere Evakuierung und Betreuung gewährleisten. Darüber hinaus sind Schulungsprogramme für Flugpersonal, Bodenteams und Rettungskräfte wesentlich, damit diese im Ernstfall schnell und sicher handeln können.

Crew NS-37 (v. l. n. r.): Joey Hyde, Adonis Pouroulis, Hans Koenigsmann, Michaela (Michi) Benthaus, Jason Stansell und Neal Milch. (Blue Origin)

Details zur Mission und zu den Unternehmenszielen

Blue Origins New Shepard ist ein vertikal startendes Suborbitalfahrzeug, das für kurzzeitige touristische Raumflüge konzipiert wurde. Das Konzept setzt auf schnelle Turnarounds und ein besonderes Augenmerk auf das Passagiererlebnis: Sekunden mit Schwerelosigkeit, ein Blick auf die Erdkrümmung und ein sicherer Wiedereintritt. NS-37 war der sechzehnte bemannte Flug im Rahmen eines fortlaufenden Programms, mit dem das Unternehmen regelmäßige Überschreitungen der Kármán-Linie anbieten will. New Shepard ist darauf ausgelegt, schnell wieder einsatzbereit zu sein und eine hohe Flottenverfügbarkeit zu ermöglichen — dabei stehen Sicherheit, Zuverlässigkeit und Komfort im Vordergrund.

Die Preispolitik für Passagierplätze bleibt weitgehend privat; Ticketpreise werden nicht immer öffentlich gelistet, und ein Teil der Flüge umfasst Partnerschaften mit Wissenschaftlern, Bildungseinrichtungen und privaten Auftraggebern. Technisch gesehen kombiniert New Shepard bewährte Triebwerks- und Fallschirmtechnologien mit modernen Avionik- und Autopilotsystemen, die für suborbitale Profile optimiert sind. Die Rakete und die Kapsel werden regelmäßig iterativ verbessert: Lehren aus Testflügen fließen direkt in Materialwahl, Steuerungssoftware und Kabinendesign ein, um Robustheit und Benutzerfreundlichkeit zu steigern.

Über suborbitale Touristendienste hinaus strebt Blue Origin auch eine Orbitalfähigkeit mit der erheblich größeren New Glenn-Rakete an. In diesem Jahr führte das Unternehmen zwei unbemannte Orbitaltests mit New Glenn durch, was die langfristige Absicht signalisiert, in das Wettbewerbsfeld für Orbitalstarts einzusteigen — wo Akteure wie SpaceX, Rocket Lab und andere bereits aktiv sind. Der Übergang von suborbitalen Erlebnissen zu regelmäßigen Orbitalstarts bringt technische, regulatorische und ökonomische Herausforderungen mit sich, bietet aber auch Chancen für spezialisierte Nutzlasten, Forschungsexperimente und die Ausweitung marktfähiger Dienstleistungen in der kommerziellen Raumfahrtbranche.

Wie geht es weiter mit inklusiver Raumfahrt?

Der Flug von Michaela Benthaus ist in erster Linie ein symbolischer, aber auch ein praxisrelevanter Schritt: Er wirft zentrale Fragen zum universellen Design von Raumfahrzeugen, zu barrierefreien Trainingsanlagen und zu notwendigen politischen Rahmenbedingungen auf, die gewährleisten sollen, dass Menschen mit Behinderungen künftig an einer breiten Palette von Missionen teilnehmen können — von suborbitalen touristischen Flügen bis hin zu wissenschaftlich motivierten orbitalen Einsätzen. Die Integration von Zugänglichkeitsprinzipien wird zunehmend die Anforderungen an technische Spezifikationen und Betriebsabläufe prägen, je mehr private Anbieter ihre Flotten und Dienstleistungen ausbauen.

Konkrete Maßnahmen, die Betreiber, Hersteller und Regulierungsbehörden in Betracht ziehen sollten, umfassen unter anderem:

  • Die Entwicklung standardisierter Prüfverfahren für Barrierefreiheit in Raumfahrzeugen, die physische, sensorische und kognitive Anforderungen berücksichtigen.
  • Die Einbindung von Menschen mit Behinderungen in den Designprozess durch Nutzerstudien, Co-Creation-Workshops und Betatestprogramme, um reale Bedürfnisse direkt abzubilden.
  • Die Anpassung von Bodeninfrastruktur, etwa barrierefreie Zugänge zu Hangars, Fahrzeuge für den Transport zur Startrampe und geräumige, zugängliche Sicherheits- und Boardingbereiche.
  • Gezielte Schulungen für Flug- und Bodenpersonal sowie Notfallteams, damit Prozesse für Ein- und Ausstieg, medizinische Versorgung und Evakuierung inklusiv und sicher umgesetzt werden können.
  • Regulatorische Leitlinien, die die Zugänglichkeit als Anforderung in Sicherheitsbewertungen und Zulassungsverfahren verankern.

Technische Innovationen wie adaptive Sitzsysteme, modulare Halterungen für Hilfsmittel, intuitive Schnittstellen für Bedien- und Informationssysteme sowie redundante Kommunikationswege für verschiedene Sinnesmodalitäten sind Beispiele für konkrete Engineering-Lösungen. Langfristig wird die Fähigkeit, inklusiv zu gestalten, nicht nur ethische und rechtliche Erwartungen erfüllen, sondern auch ökonomische Vorteile bieten: Ein inklusives Angebot erweitert die potenzielle Zielgruppe des Raumfahrt-Tourismus und stärkt die Marktposition von Unternehmen, die als Vorreiter im Bereich Zugänglichkeit gelten.

Abschließend zeigt der Flug von Benthaus, wie technische Exzellenz und soziale Inklusion sich gegenseitig verstärken können. Wenn Raumfahrtunternehmen Zugänglichkeit als integralen Bestandteil von Design und Betrieb begreifen, profitieren davon neben einzelnen Passagieren auch Forschung, Bildung und die gesamte Innovationskultur in der kommerziellen Raumfahrt. Die Herausforderung besteht darin, die gewonnenen Erkenntnisse systematisch zu dokumentieren, zu standardisieren und in künftige Missionsprofile zu integrieren — damit Raumfahrt wirklich für alle erreichbar wird.

Quelle: sciencealert

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