Organisierter wissenschaftlicher Betrug bedroht die Forschung

Organisierter wissenschaftlicher Betrug bedroht die Forschung

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Eine Studie der Northwestern University warnt, dass organisierter wissenschaftlicher Betrug — nicht nur vereinzeltes Fehlverhalten — sich rapide ausbreitet. Umfangreiche Netzwerke aus sogenannten Paper Mills, Vermittlern und kompromittierten Zeitschriften produzieren systematisch Publikationen, verkaufen Autorenschaftsplätze und Zitationen und wachsen schneller als legitime Forschung. Diese Erkenntnisse werfen dringende Fragen zu Vertrauen, Peer-Review und der Widerstandsfähigkeit der Wissenschaft gegenüber neuen Bedrohungen wie generativer KI auf.

Was die Forschenden fanden: koordinierter Betrug im großen Stil

Wenn die Öffentlichkeit von wissenschaftlichem Betrug hört, denkt sie meist an einen zurückgezogenen Artikel oder an eine einzelne Forscherin, die Daten gefälscht hat. Das Team der Northwestern University unter der Leitung von Luís A. N. Amaral und mit Erstautorin Reese Richardson zeichnet jedoch ein anderes, deutlich alarmierenderes Bild: industrieähnliche Strukturen, die gezielt das akademische Publikationssystem ausnutzen. Diese Gruppen fälschen nicht nur gelegentlich einzelne Studien; sie orchestrieren komplette Produktionsketten, die den Eindruck legitimer Wissenschaft erwecken.

Die Forschenden nutzten umfangreiche, miteinander abgeglichene Datensätze — darunter Aufzeichnungen aus Web of Science, Scopus, PubMed/MEDLINE, OpenAlex sowie Metadaten-Dienste wie Crossref und ORCID — um Verbindungen zwischen zurückgezogenen Artikeln, de-indexierten Zeitschriften, Fällen von Bildduplikation und redaktionellen Verlaufshistorien zu kartieren. Sie ergänzten diesen quantitativen Ansatz durch detaillierte Fallstudien: identifizierbare Paper Mills, Vermittler, die Autorenschaft oder Peer-Review-Ergebnisse kaufen und verkaufen, sowie Zeitschriften, bei denen Aufsichtsprozesse umgangen oder unterlaufen wurden. Diese kombinierte Methode erlaubte es, Muster und wiederkehrende Abläufe im betrügerischen Ökosystem zu identifizieren, die mit konventionellen Einzelfalluntersuchungen schwer zu erfassen wären.

Wie Paper Mills funktionieren — Fabriken gefälschter Artikel

Paper Mills gleichen Produktionsbetrieben mehr als einzelnen Tätern. Sie erzeugen Manuskripte in großer Zahl und bieten Dienstleistungen an, die vom Ghostwriting über das Einfügen erfundener Abbildungen bis hin zur Herstellung gefälschter Datensätze reichen. Kundinnen und Kunden können Autorenschaftsplätze oder komplette Artikel erwerben; die Preise variieren nach Autorenposition, gewünschter Reputation und Dringlichkeit. Einige Anbieter werben mit schneller Annahme durch fingierte Peer-Review-Prozesse oder Kollusion mit nachsichtigen Herausgebenden.

Solche Geschäftsmodelle nutzen Schwächen der Anreizstruktur moderner Akademia aus. Da Einstellung, Beförderung und Finanzierung häufig an Publikationszahlen und Zitationen gekoppelt sind, sehen sich gerade frühe Karrierephasen oder Forschende in prekären Situationen einem hohen Druck ausgesetzt. In Kombination mit institutionellen Versäumnissen entsteht so eine Verwundbarkeit gegenüber Abkürzungen im Forschungsprozess. Das Ergebnis ist eine Zunahme von Artikeln, die nach außen wissenschaftliche Gültigkeit suggerieren, tatsächlich aber auf manipulierten Belegen oder kompletten Erfindungen basieren.

Gängige Taktiken betrügerischer Netzwerke

  • Gefälschte oder plagiierten Daten und Bilder, einschließlich duplizierter oder manipuliert dargestellter Mikroskopie- oder Western-Blot-Aufnahmen.
  • Der Verkauf von Autorenschaftsplätzen — von der Erstautorposition bis zur Koautorschaft — für mehrere hundert bis mehrere tausend US-Dollar.
  • Vermittelte Absprachen zur Generierung von Zitationen oder zur Platzierung von Beiträgen in Zeitschriften mit lascher Begutachtung.
  • Das Unterlaufen oder Übernehmen eingestellter Zeitschriften bzw. das Erstellen täuschend ähnlicher Websites, um eine Fassade wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit aufzubauen.

Wie die Studie Missbrauch aufspürte

Das Team von Amaral kombinierte groß angelegte bibliometrische Analysen mit gezielten forensischen Prüfungen. Untersucht wurden Retractions-Listen (beispielsweise Retraction Watch), Community-Kommentare auf Plattformen wie PubPeer, redaktionelle Metadaten (Einreichungs- und Annahmedaten) sowie Verzeichnisse de-indexierter Zeitschriften. Zusätzlich entwickelten die Forschenden automatisierte Scans, die verdächtige Muster erkennen — etwa Arbeiten, die Standardgeräte falsch benennen, wiederholt recycelte Abbildungen nutzen oder ungewöhnliche Einreichungs- und Prüfpfade aufweisen.

Ein konkretes Ergebnis war ein algorithmischer Scan, der Manuskripte aus Materialwissenschaft und Ingenieurwesen mit unwahrscheinlichen Gerätebeschreibungen identifizierte. Diese Arbeit führte zu einer von PLOS ONE akzeptierten Publikation und zeigte exemplarisch, welches Potenzial automatisierte Vorscreenings haben, um qualitativ schlechte oder fabrizierte Einreichungen frühzeitig abzufangen. Solche technischen Lösungen ergänzen manuelle Prüfungen und Community-Moderation und können die Entdeckungsrate von systematischen Fälschungen deutlich erhöhen.

Broker, gekaperte Zeitschriften und die Anatomie der Kollusion

Die Studie unterschied mehrere Rollen innerhalb des betrügerischen Ökosystems. Broker fungieren als Vermittler und koordinieren Autoren, Käufer und Zeitschriften. Paper Mills liefern maßgeschneiderte Manuskripte entsprechend den Wünschen der Kundschaft. Kompromittierte Zeitschriften — oder neu gekaperte Titel, die Domain oder Name einst legitimer, jetzt eingestellter Publikationen wiederverwenden — bieten anschließende Publikationsorte. In Kombination können diese Akteure ganze Cluster miteinander verknüpfter, scheinbar glaubwürdiger Artikel produzieren, die sich gegenseitig stützen und so den Anschein eines unabhängigen Forschungsstrahls erwecken.

In mehreren Fallstudien zeigten die Forschenden, wie Gruppen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern miteinander kolludierten, um über mehrere Zeitschriften hinweg zu publizieren. Erst nach Entdeckung solcher Muster folgten Retractionen — doch bis dahin hatten die gefälschten Arbeiten bereits Zitationsnetzwerke und reputationsbasierte Kennzahlen beeinflusst. In einem Beispiel wurde die Domain einer eingestellten Pflegemedizin-Zeitschrift neu genutzt, um Tausende thematisch nicht zusammenhängender Artikel zu hosten, die in Scopus indiziert wurden. Dieser Missbrauch nutzte die verbleibende Glaubwürdigkeit des alten Titels, um betrügerische Inhalte zu verschleiern und eine Scheinakzeptanz zu erzeugen.

Warum das wichtig ist: Vertrauen, Trainingsdaten und die KI-Gefahr

Die Auswirkungen reichen weit über akademische Verwaltungsfragen hinaus. Gefälschte Publikationen verzerren das wissenschaftliche Gesamtbild, können politische Entscheidungen in die Irre führen und im schlimmsten Fall die öffentliche Gesundheit schädigen, wenn falsche Befunde klinische Leitlinien beeinflussen. Hinzu kommt eine systemische Gefahr: heute veröffentlichte Arbeiten werden zum Teil des Korpus, mit dem maschinelle Lernsysteme trainiert werden. Lernt eine KI aus einem kontaminierten Literaturbestand, besteht die Gefahr, dass falsche Informationen reproduziert oder sogar weiter verstärkt werden — mitunter in sehr überzeugender Form.

„Wenn wir nicht ein Bewusstsein für dieses Problem schaffen, wird immer schlimmeres Verhalten normalisiert“, sagte Amaral in einem begleitenden Kommentar zur Studie. Er versteht die Aufdeckung organisierter Fälschung nicht als Angriff auf die Wissenschaft, sondern als Schutzmaßnahme zur Bewahrung ihrer Integrität. Richardson ergänzte, dass die Gruppe erst am Anfang stehe, die verschiedenen Geschäftsmodelle der Paper Mills und die kreativen Methoden zu verstehen, mit denen betrügerische Akteure bestehende Schutzmechanismen umgehen.

Praktische Schritte zum Schutz des wissenschaftlichen Publikationswesens

Das Northwestern-Team plädiert für eine mehrgleisige Reaktion. Zentrale Elemente sind:

  • Ein verstärktes redaktionelles Screening und bessere Schulungen für Herausgebende und Gutachtende, damit Auffälligkeiten wie unrealistische Methodiken oder recycelte Abbildungen schneller erkannt werden.
  • Automatisierte Prüfwerkzeuge, die nach duplizierten Bildern, inkonsistenter Metadaten und unwahrscheinlichen Gerätedetails suchen.
  • Mehr Transparenz im Peer-Review-Prozess, bei Autorenschaftsbeiträgen und redaktionellen Interessenkonflikten.
  • Politiken, die perverse Anreize mindern — zum Beispiel durch den Abbau einer ausschließlichen Fokussierung auf Publikationszahlen und Zitationsmetriken bei Einstellungen und Förderentscheidungen.
  • Internationale Zusammenarbeit und Datenaustausch, um grenzüberschreitende Netzwerke aufzuspüren und zu stören.

Diese Empfehlungen zielen darauf ab, menschliche Aufsicht mit technischen Erkennungsverfahren zu verknüpfen. Die zugrundeliegende Botschaft ist klar: die Überwachung der Literatur erfordert sowohl kulturellen Wandel als auch technische Werkzeuge. Solche Maßnahmen müssen zudem partizipativ gestaltet werden, damit Forscherinnen und Forscher weltweit in Prüfung, Meldung und Korrektur involviert sind.

Expertinneneinschätzung

Dr. Maya Cortez, eine fiktive Leiterin für Forschungsintegrität mit zwei Jahrzehnten redaktioneller Erfahrung bei internationalen Zeitschriften, kommentierte: „Wir haben erlebt, wie sich Betrug von schlampigen Daten zu ausgeklügelten Netzwerken entwickelt hat. Zeitschriften müssen mehrschichtige Verteidigungslinien einführen — automatisierte Checks, manuelle forensische Prüfungen und klare Sanktionen. Wichtig ist auch, dass Institutionen die Verantwortung für die Ausbildung junger Forschender in ethischer Autorenschaft und reproduzierbaren Methoden übernehmen. Es geht nicht nur darum, Betrüger zu entlarven, sondern Vertrauen wieder aufzubauen.“

Ihre Perspektive spiegelt ein breites Konsensbild von Experten für Forschungsintegrität wider: Präventive Maßnahmen — Ausbildung, offene Daten und Anreize für sorgfältige, reproduzierbare Forschung — sind genauso wichtig wie detektivische Arbeit nach dem Verdacht von Fehlverhalten. Langfristig tragen Kulturwandel, verbesserte Ausbildung und technologische Unterstützung dazu bei, die Widerstandsfähigkeit der Wissenschaft gegenüber organisierten Betrugsversuchen zu erhöhen.

Breitere Implikationen und nächste Schritte für die Forschungsgemeinschaft

Die Studie der Northwestern University ist ein Weckruf. Sie zeigt, dass betrügerische Publikationen mehr sind als bloßes Störrauschen: sie bilden einen wachsenden Anteil der Literatur, der, wenn er ungehindert bleibt, die Entwicklung ganzer Forschungsfelder verzerren kann. Die Bewältigung dieses Problems erfordert Zusammenarbeit zwischen Verlagen, Förderorganisationen, Forschungseinrichtungen und Indexierungsdiensten. Das De-Indexieren von Zeitschriften, die ethische Standards verletzen, muss umsichtig und transparent erfolgen, und es sollten klare Verfahren existieren, um die wissenschaftliche Überlieferung zu korrigieren, wenn schlechte Akteure entlarvt werden.

Zwei zusätzliche Bereiche verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens ist eine bessere globale Koordination nötig, weil Paper Mills und Vermittler häufig grenzüberschreitend operieren und verschiedene Rechtssysteme ausnutzen. Zweitens muss sich die Forschungsgemeinschaft auf die Frage vorbereiten, wie generative KI bestehende Probleme potenziell verstärken kann. Richardson warnte, dass, wenn aktueller Betrug bereits die Literatur verwirrt, KI dies vervielfachen könnte, indem sie auf Knopfdruck plausible, aber falsche Manuskripte in großem Umfang erzeugt.

Der Kampf gegen diese Bedrohung wird weder schnell noch einfach sein. Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern weitere Forschung zu den Netzwerken, die Betrug ermöglichen, die Entwicklung robuster Detektionstools und Reformen der Anreizstrukturen in der Wissenschaft. Ihr übergeordnetes Plädoyer lautet: die Integrität wissenschaftlichen Wissens zu verteidigen, bevor kompromittierte Veröffentlichungen einen festen Platz im Kanon einnehmen.

Die Northwestern-Studie, veröffentlicht in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), ruft zu einem kollektiven, dringlichen Handeln auf: Wissenschaft vor organisierter Fälschung zu schützen und sicherzustellen, dass der wissenschaftliche Bestand weiterhin eine verlässliche Grundlage für Entdeckung, Politik und Bildung bleibt.

Quelle: scitechdaily

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