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Mittelalte Erwachsene – vor allem Frauen in ihren 50ern – zeigen ungewöhnlich hohe Raten von suchtähnlichen Reaktionen auf ultraverarbeitete Lebensmittel. Neue Analysen national repräsentativer Umfragedaten deuten darauf hin, dass die ersten Kohorten, die in einem Nahrungsmittelsystem aufwuchsen, das von industriellen Convenience-Produkten dominiert wird, andauernde Muster zeigen, die mit klinischen Definitionen von Abhängigkeit übereinstimmen. Diese Befunde haben weitreichende Folgen für die öffentliche Gesundheitskommunikation, klinisches Screening und Präventionsstrategien, denn sie weisen auf langanhaltende Verhaltensmuster hin, die über Lebensjahre hinweg das Krankheitsrisiko erhöhen können.
Die Generation der verarbeiteten Lebensmittel und generationelle Unterschiede
Der Begriff „ultraverarbeitete Lebensmittel“ beschreibt industrielle Formulierungen, die bewusst so entwickelt wurden, dass sie besonders schmackhaft und bequem sind – dazu gehören Süßigkeiten, Fast Food, gesüßte Getränke, Mikrowellenfertiggerichte und viele verpackte „Diät“-Snacks. Solche Produkte werden häufig mit gezielten Kombinationen aus Zucker, Fett, Salz, raffinierten Kohlenhydraten und künstlichen Aromen hergestellt, um den Belohnungswert zu steigern und wiederholten Konsum zu fördern.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Michigan nutzten Daten der U-M National Poll on Healthy Aging, um zu untersuchen, wie lebenslange Exposition gegenüber diesem Nahrungsumfeld mit suchtähnlichen Reaktionen zusammenhängt. Die Auswertung umfasste mehr als 2.000 ältere US-Amerikanerinnen und -Amerikaner und macht deutliche generationelle Unterschiede sichtbar. Bei Erwachsenen, die jetzt in ihren 50ern und frühen 60ern sind – also denen, die in den prägenden Jahren von einer Flut ultraverarbeiteter Produkte umgeben waren – erfüllten etwa 21 % der Frauen und 10 % der Männer die Studienkriterien für eine Abhängigkeit von ultraverarbeiteten Lebensmitteln. Im Gegensatz dazu lagen die Raten bei den 65- bis 80-Jährigen deutlich niedriger: rund 12 % der Frauen und 4 % der Männer fielen hier in denselben Bereich.
Diese Unterschiede sprechen für einen Kohorteneffekt: Generation X und die jüngeren Baby-Boomer verbrachten ihre prägenden Jahre erstmals in einem Umfeld, in dem verarbeitete Lebensmittel allgegenwärtig wurden und aggressive Marketingkampagnen liefen. Besonders in den 1980er- und 1990er-Jahren tauchte eine Welle fettarmer, auf Bequemlichkeit ausgerichteter Produkte auf, die gezielt an Frauen vermarktet wurden. Solche frühkindlichen und jugendlichen Einflüsse können langfristig das Belohnungs- und Essverhalten formen und so über Jahre oder Jahrzehnte hinweg zu verstärkten, schwer kontrollierbaren Konsummustern führen.

Wie Forschende suchthaftes Essen erfassten
Klinische Kriterien adaptiert für Nahrungsmittel
Um suchtähnliches Essverhalten zu quantifizieren, wandten die Untersuchenden die modifizierte Yale Food Addiction Scale 2.0 (mYFAS 2.0) an, ein standardisiertes Instrument, das aus diagnostischen Kriterien für Substanzgebrauchsstörungen adaptiert wurde. Die mYFAS fragt nach 13 typischen Erfahrungen mit besonders belohnenden Lebensmitteln – etwa intensiven Cravings, der Unfähigkeit, den Konsum trotz des Vorsatzes zu reduzieren, Entzugssymptomen, weiterem Gebrauch trotz negativer Folgen sowie dem Vermeiden sozialer Situationen wegen essbezogener Probleme.
Auch wenn Lebensmittel nicht pharmakologisch identisch sind mit Substanzen wie Alkohol oder Nikotin, operationalisiert die Skala Verhaltens- und psychologische Anzeichen, die Substanzgebrauchsstörungen ähneln. Mit diesen Kriterien identifiziert die Studie Personen, die klinisch bedeutsame Muster problematischen Konsums von ultraverarbeiteten Produkten aufweisen – dazu zählen stark gezuckerte Getränke, Fast-Food-Mahlzeiten und industriell optimierte Snackprodukte. Die Anwendung eines validierten Instruments wie mYFAS 2.0 ermöglicht eine vergleichbare Einschätzung zwischen Studien und unterstützt klinische Diskussionen über Essverhalten als potenziell suchtrelevantes Problem.
Stichprobe der Umfrage und Studiendesign
Die Ergebnisse stammen aus dem University of Michigan National Poll on Healthy Aging, durchgeführt über das U-M Institute for Healthcare Policy and Innovation mit Unterstützung von Michigan Medicine. Der Poll ist landesrepräsentativ für ältere Erwachsene und erlaubt es Forschenden, Indikatoren für Suchtverhalten mit selbstberichteten Angaben zu physischer und psychischer Gesundheit, Körperwahrnehmung und sozialen Variablen zu verknüpfen. Das Studiendesign umfasst Querschnittsdaten, die auf Assoziationen, aber nicht zwingend auf kausale Zusammenhänge hinweisen; dennoch liefern sie wichtige Hinweise auf Bevölkerungsrisiken und Zielgruppen für Prävention und klinische Interventionen.
Bezüge zu Körperwahrnehmung, Gesundheitszustand und sozialer Isolation
Die Analyse untersuchte auch Zusammenhänge zwischen einer möglichen Abhängigkeit von ultraverarbeiteten Lebensmitteln und Faktoren, die das Wohlbefinden beeinflussen. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehören:
- Wahrnehmung des Körpergewichts: Teilnehmende, die sich selbst als übergewichtig bezeichneten, hatten deutlich höhere Chancen, die Kriterien für eine Abhängigkeit zu erfüllen. Über alle Altersgruppen hinweg traf dies auf etwa ein Drittel der Frauen zu, die sich als übergewichtig einstuften; auch Männer mit entsprechender Selbstwahrnehmung zeigten erhöhte Raten. Relativ betrachtet berichtete die Studie deutlich höhere Wahrscheinlichkeiten für suchtähnliches Verhalten bei denen, die sich als zu schwer empfanden, was darauf hindeutet, dass subjektive Gewichtseinschätzung ein wichtiger Marker für problematisches Essverhalten sein kann.
- Mentale und physische Gesundheit: Teilnehmende, die ihre psychische Verfassung als „mäßig“ oder „schlecht“ bewerteten, hatten ein mehrfach erhöhtes Risiko, die Kriterien zu erfüllen. Ebenso war schlechter körperlicher Gesundheitszustand mit höheren Chancen auf problematischen Gebrauch ultraverarbeiteter Lebensmittel verbunden. Solche Befunde unterstreichen die enge Verknüpfung zwischen psychischer Belastung, körperlicher Erkrankung und einem erhöhten Konsum hochbelohnender Nahrungsmittel.
- Soziale Isolation: Personen, die angaben, sich zeitweise oder häufig isoliert zu fühlen, waren mehr als dreimal so häufig in die nach mYFAS definierten Kategorien einzuordnen wie jene ohne Berichte über Isolation. Soziale Einsamkeit scheint demnach ein starker Risikofaktor zu sein und kann sowohl Ursache als auch Folge exzessiven Konsums sein.
Die Forschenden betonen, dass eine reziproke Beziehung plausibel ist: Ultraverarbeitete Lebensmittel können zur Gewichtszunahme und zum Anstieg chronischer Erkrankungsrisiken beitragen, während soziale und psychische Belastungen die Abhängigkeit von stark belohnenden Convenience-Produkten verstärken können. Zudem werden viele dieser Produkte als „gesundheitsbewusst“ beworben – etwa fettarm, „light“ oder mit Zusätzen wie Vitaminen versehen – was Verbraucherinnen und Verbraucher, die ihr Gewicht kontrollieren wollen, in die Irre führen kann. Diese Health-Washing-Strategien verstärken oft die Cravings und das Überessen, anstatt das Risiko zu mindern.
Öffentliche Gesundheit: Implikationen und künftiges Risiko
Die heute mittelalten Kohorten wuchsen in einer Zeit auf, in der sich das nationale Nahrungsumfeld deutlich veränderte: Supermärkte, Lieferangebote und Verkaufsautomaten füllten sich mit industriellen Convenience-Lebensmitteln, und massives Marketing normalisierte deren Konsum. Da Kinder und Jugendliche heute einen noch größeren Anteil ihrer Kalorien aus ultraverarbeiteten Quellen beziehen, warnen Forschende davor, dass zukünftige ältere Bevölkerungsgruppen eine noch höhere lebenslange Prävalenz suchtähnlicher Essmuster aufweisen könnten.
Weil der Konsum ultraverarbeiteter Lebensmittel in anderen Studien mit kardiometabolischen Erkrankungen und vorzeitiger Sterblichkeit in Verbindung gebracht wurde, werfen suchtähnliche Muster langfristige gesundheitliche Bedenken für die Bevölkerung auf. Die leitende Autorin der Studie betonte, dass es wichtig sei, nicht nur die Nährstoffzusammensetzung zu betrachten, sondern auch zu verstehen, wie Produktgestaltung und Marketing Verhalten über die Lebensspanne hinweg formen. Produktformulierungen, Verpackungsdesign und gezielte Werbebotschaften sind demnach zentrale Elemente, die das Risiko für problematischen Konsum erhöhen können.
Gesundheitssysteme und behandelnde Ärztinnen und Ärzte könnten neue Screening-Instrumente und Interventionen benötigen, die zwanghaftes oder kontrollverlustartiges Essen im Zusammenhang mit ultraverarbeiteten Lebensmitteln erkennen. Präventionsmaßnahmen, die sich auf kritische Entwicklungsphasen – insbesondere Kindheit und Jugend – konzentrieren, könnten entscheidend sein, um das lebenslange Risiko zu reduzieren. Beispiele hierfür sind striktere Werbebeschränkungen gegenüber Kindern, Schulprogramme, die echte Lebensmittelkompetenz fördern, und Maßnahmen zur Verringerung der Verfügbarkeit hochgradig verarbeiteter Produkte in Schulspeisungen.
Expertinnen-Einschätzung
„Wir beobachten ein Muster, das wir aus anderen Public-Health-Herausforderungen kennen: Umweltbedingte Exposition kombiniert mit gezieltem Marketing kann lebenslange Verwundbarkeiten erzeugen“, sagte Dr. Maya R. Santos, eine Expertin für Public-Health-Ernährung und Dozentin für Verhaltensnutritionswissenschaften. „Aus präventiver Sicht könnten politische Maßnahmen, die die Exposition von Kindern gegenüber hochgradig optimierten Lebensmitteln begrenzen und irreführende ‚Gesundheits‘-Aussagen regulieren, die Zahl der Menschen verringern, die bis zur Lebensmitte solche suchtähnlichen Verhaltensweisen entwickeln. Klinikerinnen und Kliniker sollten zudem berücksichtigen, dass die Gewichtswahrnehmung und soziale Isolation ihrer Patientinnen und Patienten nicht bloß Hintergrundfaktoren sind; sie interagieren häufig direkt mit dem Essverhalten.“
„Die Studie macht deutlich, dass multidisziplinäre Antworten notwendig sind – Ernährungs‑ und Gesundheitspolitik, verhaltenstherapeutische Ansätze und community-basierte Unterstützungsangebote müssen zusammenwirken, um die komplexen Treiber zwanghaften Essens im Zusammenhang mit ultraverarbeiteten Produkten anzugehen“, fügte Dr. Santos hinzu. Solche integrierten Strategien können sowohl individuelle Behandlungspfade als auch strukturelle Veränderungen in Angebot und Nachfrage adressieren.
Fazit
Die Analyse der University of Michigan hebt eine wachsende Herausforderung für die öffentliche Gesundheit hervor: Erwachsene, die in einem Lebensmittelsystem aufwuchsen, das auf ultraverarbeitete Produkte ausgerichtet ist, zeigen höhere Raten suchtähnlichen Essens, besonders Frauen in ihren 50ern. Erfasst mit der modifizierten Yale Food Addiction Scale 2.0, korrelieren diese Muster mit schlechter eingeschätzter psychischer und physischer Gesundheit, Selbstwahrnehmung von Übergewicht und sozialer Isolation. Angesichts der Tatsache, dass jüngere Generationen anteilsmäßig mehr Kalorien aus ultraverarbeiteten Quellen beziehen, wirft die Studie dringende Fragen nach Prävention, klinischem Screening und politischen Maßnahmen auf, die zukünftige Schäden einschränken könnten.
Politisch Verantwortliche, behandelnde Professionelle und Gemeinden sollten gemeinsam betrachten, wie Produktgestaltung, Marketing und soziale Determinanten der Gesundheit langfristig Essverhalten formen. Frühe Interventionen – sowohl aufklärerische als auch regulatorische – könnten entscheidend dazu beitragen, die lebenslange Belastung durch Abhängigkeit von ultraverarbeiteten Lebensmitteln und deren gesundheitliche Folgen zu reduzieren. Gleichzeitig sind weiterführende, longitudinale Forschungen nötig, um kausale Mechanismen besser zu verstehen und evidenzbasierte Gegenmaßnahmen zielgenau zu entwickeln.
Quelle: scitechdaily
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