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Geschlecht, Chromosomen und ein globales Muster der Lebensdauer
Über Arten und Kontinente hinweg leben Weibchen tendenziell länger als Männchen — beim Menschen beträgt dieser Unterschied im Durchschnitt etwa 5,4 Jahre. Eine neue vergleichende Studie an Säugetieren und Vögeln verknüpft diese geschlechtsbezogenen Unterschiede in der Lebenserwartung nun mit grundlegenden evolutionären und genetischen Faktoren und zeigt zugleich, wie Verhalten und Ökologie diese Muster modifizieren können. Die Untersuchung liefert daher wichtige Einsichten für die evolutionäre Biologie, Demographie und den Naturschutz, indem sie genetische Grundlagen wie Geschlechtschromosomen mit ökologischen Einflüssen kombiniert und so ein umfassenderes Bild geschlechtsspezifischer Langlebigkeit bietet.
Biologinnen und Biologen verwenden unterschiedliche Definitionen von Geschlecht, doch diese Studie nutzte eine eindeutige chromosomale Definition: Bei Säugetieren haben Weibchen typischerweise zwei X-Chromosomen, Männchen ein X- und ein Y-Chromosom; bei Vögeln ist das System umgekehrt: Weibchen sind heterogamet (ein Z- und ein W-Chromosom), Männchen homogamet (zwei Z). Die sogenannte Heterogameten-Hypothese besagt, dass das heterogamete Geschlecht – also das mit zwei unterschiedlichen Geschlechtschromosomen – eher zu verminderter Langlebigkeit neigt, weil das Fehlen eines zweiten, redundanten Chromosomenkopie schädliche Mutationen offenlegen kann. Diese genetische Fragilität bildet demnach eine potenzielle Grundursache für Geschlechtsunterschiede in der Lebenserwartung.
Studienaufbau und Datenquellen
Das internationale Forscherteam unter Leitung der Primatologin Johanna Stärk am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie wertete Datensätze zur erwachsenen Lebenserwartung aus Zoobeständen für 1.176 Arten von Säugetieren und Vögeln aus. Zur Validierung der Ergebnisse in natürlichen Umgebungen verglichen die Forschenden die Zoo-Daten mit veröffentlichten Langzeitdaten wild lebender Populationen für 110 dieser Arten. Durch diesen zweistufigen Ansatz konnten sie systematische Verzerrungen erkennen und die Robustheit der Befunde prüfen.
Die Verwendung großer Zoobestandsdatensätze reduzierte viele Umweltvariablen: Tiere in Zoos erhalten standardisierte Ernährung, kontinuierliche tiermedizinische Betreuung und sind häufig minimaler Prädation ausgesetzt. Das verringert externen »Signal-Rausch«-Effekt und erleichtert es, genetische und verhaltensbedingte Beiträge zur Lebensdauer zu isolieren. Die Analyse integrierte demografische Kennzahlen, Klassifikationen der Paarungssysteme (Monogamie versus Polygamie), geschlechtsspezifische Körpergrößenunterschiede sowie Informationen zu elterlicher Fürsorge und Verhaltensmerkmalen wie Konkurrenzverhalten. Durch statistische Modelle, die phylogenetische Verwandtschaft berücksichtigten, konnten die Autorinnen und Autoren evolutionär bedingte Effekte von ökologischen Modifikatoren trennen.
Zentrale Ergebnisse
Bei den untersuchten Säugetieren lebten Weibchen in etwa 72 % der Arten länger als Männchen; in Zoobeständen entsprach das durchschnittlich einem Vorteil der Weibchen von etwa 12 % in der Lebenserwartung. In Wildpopulationen zeigte sich ein noch stärkerer Effekt: Dort war der weibliche Vorteil im Mittel rund 1,5-mal größer als in Zoos, was darauf hindeutet, dass Umweltstressoren wie Prädation, Nahrungsknappheit oder Krankheiten geschlechtsspezifische Unterschiede in der Langlebigkeit verstärken können. Diese Befunde heben hervor, dass sowohl intrinsische genetische Faktoren als auch extrinsische ökologische Belastungen die beobachteten Muster formen.
Die Studie illustriert, dass Weibchen bei den meisten Säugetierarten länger leben (rot steht dabei für einen weiblichen Lebensdauer-Vorteil, blau für einen männlichen). (Stärk et al., Science Advances, 2025)
Im Gegensatz dazu überlebten bei den Vögeln in etwa 68 % der Arten die Männchen die Weibchen (der durchschnittliche männliche Vorteil lag in Zoos bei ungefähr 5 %). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit dem bei Vögeln umgekehrten chromosomalen System, bei dem Weibchen heterogamet sind. Die Gegenüberstellung zwischen Klassen — Säugetiere vs. Vögel — stützt damit die Annahme, dass Geschlechtschromosomen eine Rolle bei der Ausprägung geschlechtsspezifischer Lebenserwartung spielen, wie es die Heterogameten-Hypothese vorhersagt.
Gleichzeitig war das Muster nicht universell: Einige Arten wichen vom erwarteten Trend ab. Besonders auffällig waren zahlreiche Greifvögel und bestimmte andere Vogelgruppen, bei denen größere und langlebigere Weibchen dokumentiert wurden. Solche Ausnahmen verdeutlichen, dass die chromosomale Konfiguration zwar eine wichtige Grundlage darstellt, doch zusätzliche Faktoren wie Körpergröße, Stoffwechselraten, Paarungsstrategien und elterliche Investitionen maßgeblich bestimmen, welches Geschlecht länger lebt. 'Einige Arten zeigen das Gegenteil des erwarteten Musters', betonte Stärk, und unterstrich damit, dass Chromosomen nur einen Teil der Antwort liefern.
Einfluss von Paarungssystemen und elterlicher Fürsorge
Die Forscherinnen und Forscher dokumentierten eindeutige verhaltensbedingte Modifikatoren der Lebensdauer. Bei nicht-monogamen (polygamen) Säugetieren war die Mortalität der Männchen höher, vermutlich weil intensive Konkurrenz zwischen Männchen, ausgeprägte Balz- und Revierverhaltensweisen sowie risikoreiche Strategien das Überleben kosten. Solche Verhaltensweisen erhöhen Stress, Energieaufwand und Verletzungsrisiken und können so die Lebenserwartung reduzieren. Bei vielen Vögeln hingegen, in denen Monogamie weiter verbreitet ist, werden Konkurrenzdruck und damit verbundene Sterberisiken unter Männchen oft reduziert, was zu ausgeglicheneren Lebenserwartungen zwischen den Geschlechtern führt.
Darüber hinaus zeigte sich ein klarer Zusammenhang zwischen elterlicher Investition und Langlebigkeit: In Arten, in denen ein Elternteil besonders viel Zeit und Energie in die Aufzucht der Nachkommen investiert, trat häufiger eine erhöhte Lebensdauer in der pflegenden Geschlechtsrolle auf. Bei Primaten etwa schafft längere mütterliche Fürsorge Selektionsdruck für langlebigere Weibchen, weil deren Überleben unmittelbar den Fortpflanzungserfolg der Nachkommen beeinflusst. Solche Zusammenhänge zwischen Paarungssystem, elterlicher Fürsorge und Lebenserwartung sind wichtige ökologische Modulatoren der genetischen Baseline, die durch Geschlechtschromosomen vorgegeben wird.
Folgen für evolutionäre Biologie und Naturschutz
Die Studie zeigt, dass die erwachsene Lebenserwartung aus einem Zusammenwirken von Genetik (Geschlechtschromosomen) und Ökologie (Paarungssystem, elterliche Fürsorge, Prädation) entsteht. Das bedeutet, dass Vorhersagen zur geschlechtsspezifischen Verwundbarkeit sowohl intrinsische genetische Risikofaktoren als auch extrinsische ökologische Druckfaktoren berücksichtigen müssen. Für den Naturschutz heißt das: Managementmaßnahmen sollten geschlechtsspezifische Sterberisiken einbeziehen. Maßnahmen, die übermäßige männliche Konkurrenz reduzieren oder Umweltstressfaktoren abschwächen — beispielsweise durch Schutz von Lebensräumen, Verringerung von Nahrungskonkurrenz oder gezielte Gesundheitsprogramme — könnten die Populationsdynamik deutlich beeinflussen und so zum langfristigen Erhalt gefährdeter Arten beitragen.
Obwohl die Heterogameten-Hypothese auf breiter taxonomischer Ebene starke Unterstützung findet, betonen die Forschenden, dass sie die enorme Variation in geschlechtsspezifischer Lebenserwartung nicht vollständig erklärt. 'Die erwachsene Lebenserwartung wird wahrscheinlich von einer Kombination aus Umwelt- und genetischen Faktoren beeinflusst', schreiben die Autorinnen und Autoren und fordern integrative Studien, die Genomik, Verhalten und Demographie verknüpfen. Solche vernetzten Ansätze sind entscheidend, um mechanismspezifische Erklärungen zu entwickeln, die über Korrelationen hinausgehen und kausale Pfade identifizieren.
Technisch gesprochen eröffnet die Verbindung von groß angelegten demografischen Datensätzen mit phylogenetischen Modellen und Verhaltensdaten neue Möglichkeiten für die evolutionäre Biologie. Beispielsweise erlauben genomische Analysen, schädliche Allele zu identifizieren, die in heterogameten Geschlechtern stärker wirksam werden könnten, während experimentelle Studien und Feldarbeit helfen können, die Wirkung ökologischer Stressoren zu quantifizieren. Solche multidisziplinären Studien verbessern die Aussagekraft von Vorhersagemodellen zu Langlebigkeit, Geschlechtsunterschieden und Populationsbiologie.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
'Diese Studie ist wichtig, weil sie enorme demografische Datensätze mit evolutionärer Theorie kombiniert', sagte Dr. Maya Patel, Evolutionsbiologin am Institute for Comparative Genomics. 'Sie zeigt, dass Geschlechtschromosomen ein Baseline-Risiko setzen, aber Paarungssysteme und elterliche Investitionen die Lebensverläufe in unterschiedliche Richtungen lenken. Für Forschende und Naturschützer bedeutet das: Lösungen müssen sowohl genetische als auch ökologische Faktoren berücksichtigen.' Patel hob ferner hervor, dass translative Forschung — etwa zwischen Zoopopulationen und Wildpopulationen — notwendig ist, um Managementempfehlungen evidenzbasiert zu gestalten.
Darüber hinaus betonen Expertinnen und Experten, dass die Praxisrelevanz solcher Befunde nicht allein in der Erklärung von Langlebigkeitsunterschieden liegt, sondern auch in der Verbesserung von Strategien für die Erhaltung genetischer Vielfalt, die Implementierung geschlechtsdifferenzierter Gesundheitsmonitoring-Programme und die Entwicklung gezielter Schutzmaßnahmen für bedrohte Arten, bei denen ein Geschlecht deutlich stärker gefährdet ist.
Schlussfolgerung
Die vergleichende Analyse von Stärk und Kolleginnen und Kollegen beleuchtet, warum weibliche Säugetiere häufig länger leben als Männchen: Es handelt sich um eine Mischung aus chromosomaler Architektur und verhaltensökologischen Faktoren. Heterogamie scheint eine genetische Verwundbarkeit zu schaffen, die durch Paarungssysteme, elterliche Rollen und Umweltbelastungen entweder verstärkt oder abgeschwächt wird. Zukünftige Forschung, die genomische Daten, longitudinale Feldstudien und experimentelle Ansätze integriert, wird notwendig sein, um die proximate Mechanismen zu entwirren, die geschlechtsspezifisches Altern über Taxa hinweg erzeugen. Solche integrativen Forschungslinien haben das Potenzial, sowohl die theoretische Evolutionstheorie als auch praktische Naturschutzmaßnahmen substantiell zu verbessern, indem sie klarere Vorhersagen zu geschlechtsspezifischer Verwundbarkeit und Populationsdynamik ermöglichen.
Quelle: sciencealert
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