Gletscherverlust bei +4 °C: Folgen für Landschaft und Wasser

Gletscherverlust bei +4 °C: Folgen für Landschaft und Wasser

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Unter einem Szenario mit starker Erwärmung könnten die Gletscher der Welt in einer beispiellosen Geschwindigkeit verschwinden. Neue Projektionen zeigen: Steigt die globale Mitteltemperatur um rund 4 °C, würden jährlich tausende Gletscher vor Mitte des Jahrhunderts verloren gehen – mit tiefgreifenden Folgen für Berglandschaften, Wasserversorgung, Ökosysteme und den globalen Meeresspiegel über Generationen hinweg. Diese Entwicklung betrifft nicht nur physische Eismassen, sondern auch die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Systeme, die von Gletschern abhängen, von Trinkwasserversorgung und Landwirtschaft bis hin zu Tourismus und kulturellem Erbe.

Wie schnell würden Gletscher verschwinden?

Klimamodelle und Gletscherprojektionen deuten darauf hin, dass in einer Welt mit etwa 4 °C Erwärmung bis zu 4.000 Gletscher pro Jahr verschwinden könnten – und zwar bereits um die Mitte der 2050er Jahre. Auf das Jahrhundert gerechnet würde dieses Tempo die weltweite Gletscherzahl drastisch reduzieren: Unter diesem Szenario könnten bis zum Jahr 2100 nur noch etwa 9 % der heutigen Gletscher übrigbleiben, das wären schätzungsweise rund 18.288 Gletscher. Diese Zahlen sind nicht nur statistische Werte; hinter ihnen stehen Süßwasserreserven, sensible Bergökosysteme und kulturell bedeutsame Landschaften, deren Verlust weitreichende Folgen hätte.

Die Modellrechnungen kombinieren verschiedene Datenquellen: historisch beobachtete Massenverluste, Klimaprojektionen, regionale Schneefall- und Temperaturveränderungen sowie Parameter zur Dynamik einzelner Gletscher. Unsicherheiten bleiben bestehen – etwa in Bezug auf lokale Niederschlagsänderungen oder die Reaktion sehr großer Eismassen –, doch die Richtung ist klar: Unter hohem Erwärmungspfad ist ein massiver, anhaltender Gletscherschwund äußerst wahrscheinlich. Diese Projektionen sind konsistent mit Ergebnissen großer Bewertungen wie denen des IPCC und regionalen Studien, die für viele Gebirgsregionen schon heute beschleunigte Schmelzraten zeigen.

Zeitlicher Verlauf unterscheidet sich nach Region — kleine Eisflächen, schneller Verlust

Der Höhepunkt des Gletscherschwunds fällt nicht überall gleichzeitig: Er hängt stark von Größe, Höhe und geografischer Lage der Gletscher ab. Regionen, die von kleinen Gebirgsgletschern dominiert werden – etwa die europäischen Alpen, die subtropischen Anden oder Teile Zentralasiens – sind besonders anfällig. Dort reagieren kleine, niedriger gelegene Eiskörper sehr schnell auf Temperaturanstiege, weil sie eine große Oberfläche im Verhältnis zu ihrem Volumen besitzen und häufig an kritischen Schwellen liegen, etwa bei der Schneegrenze.

In solchen Regionen könnte die Hälfte der heutigen Gletscher bereits innerhalb von zwei Jahrzehnten verschwinden, wenn die Erwärmung ungebremst fortschreitet. Die Folgen sind lokal oft dramatisch: reduzierte Sommerabflüsse, veränderte saisonale Wasserverfügbarkeit, Einbußen bei der Trinkwasserversorgung und für die Bewässerung sowie wirtschaftliche Einbußen im Tourismus. Kleine Gletscher erfüllen außerdem wichtige ökologische Funktionen als Wasserpuffer in Trockenperioden; ihr Verlust verschärft daher bereits bestehende Wasserstress-Probleme.

Großes Eis verbleibt länger, schrumpft aber trotzdem

Demgegenüber zeigen große Eiskörper eine deutlich langsamere Reaktion: Massive Gletscher, Eiskappen und Inlandeisschilde wie Teile Grönlands oder Randbereiche der Antarktis behalten ihr Volumen länger und erreichen Peak-Verlustraten oft erst später im Verlauf des Jahrhunderts. Das liegt daran, dass das thermische und dynamische Verhalten großer Eismassen andere Zeitskalen hat; sie brauchen länger, um die Wärme in tieferen Schichten aufzunehmen und dynamisch als Massenverlust sichtbar zu werden.

Dabei ist wichtig zu beachten, dass »länger« nicht »sicher« bedeutet: Große Eismassen tragen erheblich zum langfristigen Meeresspiegelanstieg bei. Selbst wenn sie nicht so schnell verschwinden wie kleine Gebirgsgletscher, würden anhaltende Erwärmung und veränderte Meereisdynamik über Jahrzehnte bis Jahrhunderte spürbare Beiträge zum globalen Meeresspiegel leisten. Zudem können Abschmelzungen an Rändern großer Eismassen lokale Rückkopplungen auslösen, die beschleunigende Effekte haben können – etwa durch die Kalbung von Schelfeis oder veränderte Strömungsmuster.

Warum die Rate später im Jahrhundert langsamer wird

Forscher betonen, dass ein Rückgang der jährlichen Verlustraten gegen Ende des Jahrhunderts nicht als Anzeichen für eine Erholung missverstanden werden darf. Vielmehr entsteht die verlangsamte Rate hauptsächlich, weil ein großer Teil der anfälligsten Gletscher bereits aufgebraucht ist. Die verbleibenden Gletscher sind tendenziell größer, höher gelegen oder in klimatisch günstigeren Lagen – Eigenschaften, die sie langsamer auftauen lassen. Wie ein Forscher, Van Tricht, zusammenfasste: Die Verlustrate in den Alpen werde gegen Ende des Jahrhunderts nahezu auf null fallen «einfach weil fast keine Gletscher mehr übrig sind».

Diese Entwicklung ist ein Beispiel für eine sogenannte nicht-lineare Veränderung: Anfangs führen Temperaturanstiege zu hohen jährlichen Verlusten, weil viele kleine, dünne Gletscher schnell reagieren. Sobald diese verschwunden sind, sinkt der absolute jährliche Verlust, aber der verbleibende Eisbestand ist weiterhin deutlich reduziert im Vergleich zum vorindustriellen Zustand. Die ökologische und sozioökonomische Wirkung bleibt massiv, auch wenn die jährliche Prozentzahl des Verlusts abnimmt.

Hinzu kommt, dass regionale Klimaschwankungen, Veränderungen in der Niederschlagsverteilung und Rückkopplungsprozesse wie veränderte Albedo (Reflexionsvermögen) lokale Verlaufsformen prägen. Wissenschaftliche Arbeiten nutzen daher Ensembles aus Modellen, um Bandbreiten abzubilden und Unsicherheiten zu quantifizieren – ein wichtiges Vorgehen für Planer und Entscheidungsträger, die Anpassungsstrategien entwickeln müssen.

Was das für Gemeinden und Ökosysteme bedeutet

  • Wassersicherheit: Schmelzwasser aus Gletschern speist Flussläufe und unterstützt Landwirtschaft, Trinkwasserversorgung und Energieerzeugung. Der Rückgang der Gletscher reduziert saisonale Pufferkapazitäten, verschiebt den Zeitpunkt maximaler Abflüsse und erhöht in vielen Regionen das Risiko von Wasserknappheit in Sommermonaten.
  • Meeresspiegel: Gletscherschmelze trägt neben Veränderungen der Eisschilde zum globalen Meeresspiegelanstieg bei. Auch wenn der Beitrag einzelner Gebirgsgletscher kleiner scheint als der großer Eisschilde, summieren sich diese Beiträge weltweit und beeinflussen Küstenregionen, Sturmflutrisiken und Küstenökosysteme.
  • Biodiversität und Tourismus: Bergökosysteme mit spezialisierten Arten sind durch Habitatverlust und veränderte Wasserflüsse bedroht. Gleichzeitig sind viele lokale Ökonomien – Wintersport, Sommerwanderungen, Landestourismus – auf Gletscherlandschaften und deren ästhetische sowie funktionale Eigenschaften angewiesen.

Darüber hinaus erhöhen sich die Gefahren für Menschen durch neue Naturrisiken: Das Entstehen und die Destabilisierung von Gletscherseen kann zu Glazialen Seen-Ausbrüchen (GLOFs) führen, die plötzlich große Wassermengen talauswärts freisetzen und Siedlungen, Infrastruktur und landwirtschaftliche Flächen gefährden. Auch erhöhte Sedimentfracht, Veränderungen in Flussbettdynamik und vermehrte Hanginstabilitäten sind beobachtete Folgen schnellen Abschmelzens.

Um die sozialen und ökologischen Folgen des raschen Gletscherschwunds abzumildern, sind zwei Handlungsfelder zentral: Erstens die Minderung des Klimawandels durch konsequente Emissionsreduktionen, um hohe Erwärmungsszenarien zu vermeiden; zweitens umfassende Anpassungsplanung auf lokaler und regionaler Ebene. Zu den Anpassungsmaßnahmen gehören integriertes Wassermanagement, Investitionen in Wasserspeicher und effiziente Bewässerungstechniken, Frühwarnsysteme für GLOFs, Schutzmaßnahmen für Infrastruktur und Maßnahmen zum Erhalt von Ökosystemdienstleistungen.

Technische Lösungen – wie der Ausbau saisonaler Speicher, die Wiederherstellung natürlicher Wasserspeicher in Feuchtgebieten sowie verbesserte Bewirtschaftungsstrategien für Flusseinzugsgebiete – sind notwendig, aber nur Teil eines umfassenderen Ansatzes, der auch sozioökonomische Anpassungsprozesse, Politikgestaltung und grenzüberschreitende Kooperation umfasst. Viele Flusseinzugsgebiete, die von Gletschern gespeist werden, überschreiten nationale Grenzen; daher sind internationale Abkommen und gemeinsame Managementpläne entscheidend.

Wissenschaftliche Überwachung und Fernmessung (remote sensing) spielen eine zentrale Rolle: Satellitendaten, Luftbildauswertungen und in-situ-Messungen liefern die Basis, um Veränderungen zu quantifizieren, Risiken zu erkennen und adaptive Maßnahmen zu priorisieren. Die Verbindung von Modellprojektionen mit lokalem Wissen – etwa der Erfahrung von Berggemeinden – erhöht die Umsetzbarkeit und Resilienz von Anpassungsstrategien.

Abschließend ist zu betonen: Selbst wenn ambitionierte Klimapolitik die Erwärmung begrenzt, sind einige Verluste bereits unvermeidlich. Deshalb müssen Schutz- und Anpassungsmaßnahmen jetzt geplant und umgesetzt werden, um die Schäden an Ökosystemen, lokalen Gemeinschaften und der Infrastruktur möglichst gering zu halten. Langfristig ist die Begrenzung der Erwärmung jedoch der wirksamste Weg, um die verbleibenden Gletscher, die sie unterstützenden Ökosysteme und die damit verbundenen Dienste für Mensch und Natur zu bewahren.

Quelle: sciencealert

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