Küssen: Urgeschichte eines Verhaltens vor 17–21 Mio. Jahren

Küssen: Urgeschichte eines Verhaltens vor 17–21 Mio. Jahren

Kommentare

9 Minuten

Neue Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Küssen deutlich älter ist als Homo sapiens – ein Verhalten, das möglicherweise auf etwa 17–21 Millionen Jahre zurückgeht und offenbar bereits von unseren affenähnlichen Vorfahren und sogar von Neandertalern praktiziert wurde.

Ein Mund-zu-Mund-Verhalten, das den Menschen vorangeht

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Oxford, die ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift Evolution and Human Behaviour veröffentlichten, betrachteten das Küssen weniger als rein kulturelle Eigenheit und mehr als potenzielles evolutionäres Merkmal. Für ihre Analyse definierten die Forschenden das Küssen eng: als nicht-aggressiven Mund-zu-Mund-Kontakt, bei dem kein Nahrungs- oder Objekttransfer stattfindet. Diese präzise Definition ermöglichte es, das Küssen als beobachtbares Merkmal innerhalb verschiedener Primatenarten zu behandeln und seine Entwicklung auf dem Stammbaum der Primaten nachzuzeichnen.

Die Studie nutzt systematisch beobachtbare Verhaltensdaten lebender großer Menschenaffen – darunter Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans – als empirische Grundlage. Solche Beobachtungen umfassen wiederholte Feldbeobachtungen, Verhaltensaufzeichnungen in zoologischen Kontexten und veröffentlichte Fallstudien, die Mund-zu-Mund-Kontakte dokumentieren. Indem die Forschenden diese dokumentierten Fälle auf eine etablierte Primaten-Phylogenie übertrugen und simulationsbasierte Rekonstruktionen ausführten, konnten sie die Wahrscheinlichkeit schätzen, mit der solche Verhaltensweisen in gemeinsamen Vorfahren vorhanden gewesen sein könnten.

Die verwendeten Modelle und statistischen Rekonstruktionsverfahren – unter anderem stochastische Charakterentwicklungssimulationen und Bayes’sche Ansätze zur Ancestralcharakter-Schätzung – deuten laut den Autorinnen und Autoren auf eine hohe Wahrscheinlichkeit hin, dass ein küssähnliches Verhalten bereits beim gemeinsamen Vorfahren der großen Menschenaffen vor ungefähr 17–21 Millionen Jahren vorhanden war und über lange evolutionäre Zeiträume hinweg erhalten blieb. Diese Schlussfolgerung stützt sich auf die Verbreitung ähnlicher Mundkontakte in verschiedenen Linien großer Menschenaffen, auf die phylogenetische Positionen dieser Arten sowie auf modellgestützte Rückprojektionen in tiefer liegende Knoten des Stammbaums.

Wichtig ist, dass die Analyse nicht behauptet, alle Formen zwischenmenschlicher Küsse heutiger Kulturen seien identisch mit den beobachteten Mundkontakten bei Affen. Vielmehr schlägt sie vor, dass eine grundlegende Form von Nicht-Nahrungs-Mundkontakt, die soziale Bindung oder Wärmeaustausch fördern kann, eine lange evolutionäre Geschichte hat. Diese Formulierung trennt das biologische, beobachtbare Verhalten von den kulturell geprägten Ritualen und Praktiken des Küssens in menschlichen Gesellschaften.

Wie die Gewohnheit unseren Vorfahren genützt haben könnte

Angesichts offensichtlicher Nachteile wie der Gefahr der Krankheitsübertragung stellt sich die Frage: Warum sollte ein solches Verhalten evolutionär erhalten bleiben? Die Studienautorinnen und -autoren sowie weitere Expertinnen und Experten schlagen mehrere adaptive Vorteile vor, die die Persistenz von Mund-zu-Mund-Kontakt plausibel machen. Zentrale Erklärungen umfassen soziale Bindung und Kohäsion in Gruppen, Informationen über den Gesundheits- und Fortpflanzungszustand potenzieller Partner durch chemische Signale im Speichel sowie physische Vorteile wie Wärmeaustausch oder Thermoregulation in kälteren Lebensräumen.

Soziobiologisch betrachtet kann enger körperlicher Kontakt – wozu auch kontrollierte Mundkontakte gehören – die Bindung zwischen Individuen stärken, Hierarchiebeziehungen stabilisieren und kooperative Netzwerke fördern. Besonders in sozialen Arten mit komplexen Bindungen, wie Bonobos oder Schimpansen, können intensive Mundkontakte Teil des Repertoires sein, das Konflikte entschärft, sexuelle Spannungen reguliert oder Allianzen festigt. Aus diesem Blickwinkel liefert ein beziehungsförderndes Verhalten unmittelbare fitnessrelevante Vorteile, weil kooperative Partnerschaften Zugang zu Ressourcen, Schutz und Fortpflanzungserfolg verbessern können.

Ein weiterer vorgeschlagener Mechanismus ist die Informationsübertragung über Speichelkomponenten. Speichel enthält Hormone, Feromone und mikrobiologische Signaturen, die Rückschlüsse auf Gesundheitszustand, Fertilität oder Immunstatus eines Individuums erlauben können. Mund-zu-Mund-Kontakt könnte daher als direkter sensorischer Kanal dienen, über den Tiere subtile chemische Hinweise aufnehmen. Wenn Partner so qualitative Informationen über ihre Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit erhalten, kann dies das Paarungsverhalten und die Partnerwahl beeinflussen und damit indirekt die genetische Fitness verbessern.

Darüber hinaus diskutiert die Oxford-Gruppe die Möglichkeit, dass Mund-zu-Mund-Kontakte zur Gruppenthermoregulation beitragen könnten. In kalten oder wechselhaften Klimazonen kann der enge Körperkontakt – inklusive des Gesichts- und Mundbereichs – helfen, Wärme zu teilen und so den Energieverlust zu reduzieren. Solche Vorteile wären besonders in Zeiten von Klimaextremen oder während glazialer Phasen relevant gewesen, als frühe Homininen und Neandertaler mit niedrigeren Temperaturen konfrontiert waren.

Die Studienautorinnen und -autoren weisen zudem darauf hin, dass Neandertaler, deren Lebensraum und Lebensweise teilweise mit denen früher moderner Menschen überlappten, plausibel Mund-zu-Mund-Kontakt für Wärme oder soziale Bindung eingesetzt haben könnten. Archäologische Befunde zu gemeinsamen Wohnstrukturen, Pflegeverhalten für Verletzte und die Nähe sozialer Gruppen sprechen dafür, dass enge soziale Interaktionen bei Neandertalern verbreitet waren. In Kombination mit mikrobiellen Übereinstimmungen im oralen Mikrobiom zwischen Menschen und Neandertalern – ein Punkt, zu dem später mehr folgt – unterstützt dies die Idee, dass intimate Mundkontakte nicht ausschließlich ein moderner Menschheitsbrauch sind.

Gleichzeitig bleibt wichtig zu betonen, dass adaptive Vorteile gegen Risiken abgewogen werden müssen. Die Übertragung von Pathogenen durch engen Körperkontakt ist ein reales Problem; Modelle, die Bindungsvorteile gegen Infektionskosten rechnen, sind notwendig, um zu verstehen, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen Mund-zu-Mund-Verhalten selektiv vorteilhaft bleibt. Solche trade-off-Modelle bilden daher einen zentralen Forschungspfad, um die evolutionäre Stabilität solcher Verhaltensweisen zu erklären.

Die neue Studie ergänzt frühere Arbeiten, die einen teilweisen Überlapp im oralen Mikrobiom von Menschen und Neandertalern dokumentieren. Solche mikrobiellen Gemeinsamkeiten sind mit direktem Speicheltransfer zwischen Arten kompatibel, etwa durch intensiven sozialen Kontakt oder Pflegeverhalten. Allein zeigen Mikrobiomdaten natürlich nicht zwingend das Vorhandensein von Küssen; kombiniert mit einer evolutionären Rekonstruktion des Verhaltens jedoch verstärken sie das Argument, dass intimer Mundkontakt bei Homininen und anderen Menschenaffen weiter verbreitet war als bisher angenommen.

Das Vorhandensein ähnlicher oraler Mikroben kann mehrere Ursachen haben: gemeinsame Umweltquellen, ähnliche Ernährungsweisen, oder direkte Übertragung durch sozial engen Kontakt. In der Zusammenschau mit Verhaltensbeobachtungen und phylogenetischen Analysen wird die Hypothese plausibler, dass direkte Mundkontakte über Artengrenzen hinweg eine Rolle spielten. In der Forschung zur evolutionären Anthropologie sind solche multidisziplinären Belege besonders wertvoll, weil sie unterschiedliche Datenquellen – Verhaltensökologie, Paläogenetik, Mikrobiomanalysen – miteinander verknüpfen.

Koautorin Matilda Brindle, Evolutionsbiologin an der University of Oxford, hebt in der Veröffentlichung hervor, dass die Studie eine breite evolutionäre Perspektive auf ein Verhalten bringt, das häufig als rein kulturell interpretiert wird. Indem sie die Vielfalt sexueller und sozialer Verhaltensweisen bei Primaten betont, lenkt die Arbeit die Aufmerksamkeit auf gemeinsame Verhaltensmuster und mögliche evolutionäre Kontinuitäten. Brindle und Kolleginnen und Kollegen sehen die Ergebnisse als Einladung zu weitergehenden Untersuchungen, die Verhalten, Mikrobiome und Umweltfaktoren verknüpfen, um besser zu verstehen, wann, warum und wie Küssen entstand und sich hielt.

Für die zukünftige Forschung schlagen die Autorinnen und Autoren mehrere konkrete Schritte vor: Erstens sollten Beobachtungsdatensätze für weniger gut untersuchte Primatenarten deutlich erweitert werden, um systematische Verzerrungen zu reduzieren und mögliche Unterschiede im Auftreten von Mundkontakten zu erfassen. Zweitens wäre eine vergleichende Analyse der Speichelchemie und mikrobiellen Profile über verschiedene Arten hinweg aufschlussreich, um zu prüfen, welche Informationen tatsächlich über Speichel übermittelt werden könnten. Drittens sollten computergestützte Modelle entwickelt werden, die den Nutzen von Bindung gegen die Kosten von Infektion auf Basis realitätsnaher Parameter abwägen.

Solche kombinierten Ansätze würden den Blick auf eine überraschend alte soziale Geste schärfen: den Kuss. Indem Verhaltensdaten, genomische Spuren und ökologische Modelle zusammengeführt werden, lässt sich ein differenzierteres Bild davon zeichnen, wie komplexe soziale Verhaltensweisen entstehen und aufrechterhalten werden. Dies ist nicht nur für die Grundlagenforschung relevant, sondern auch für ein besseres Verständnis menschlicher Kulturgeschichte und der biologischen Grundlagen sozialer Kommunikation.

Hinzu kommt, dass ein tieferes Verständnis der evolutionären Wurzeln des Küssens auch Erkenntnisse für verwandte Disziplinen bietet: Verhaltensbiologie, Paläogenetik, medizinische Mikrobiologie und sogar Soziokulturwissenschaften können von einer integrativen Perspektive profitieren, die biologische und kulturelle Faktoren nicht strikt trennt, sondern ihre Wechselwirkungen untersucht. Beispielsweise könnte die Erforschung historischer Änderungen im Auftreten von Mund-zu-Mund-Kontakten Aufschluss darüber geben, wie sich soziale Praktiken an veränderte Umwelt- oder Epidemiestandards anpassen.

In praktischer Hinsicht lassen sich aus der Studie auch methodische Lehren ziehen. Die explizite, enge Definition des Küssens als nicht-aggressiven, nicht-nahrungsbezogenen Mundkontakt zeigt, wie präzise Begriffsarbeit die Vergleichbarkeit von Verhaltensdaten über Arten hinweg verbessert. Solche klaren Ontologien sind für Meta-Analysen und phylogenetische Rekonstruktionen unerlässlich, weil sie helfen, heterogene Beobachtungsberichte in konsistente Datensätze zu überführen.

Schließlich eröffnet die Forschung diskussionswürdige Fragen zur Abgrenzung biologischer Prädispositionen und kultureller Ausprägungen. Selbst wenn ein Ursprung in affenähnlichen Vorfahren wahrscheinlich erscheint, erklärt dies nicht die enorme kulturelle Vielfalt in der Art und Weise, wie Menschen heute küssen – von Ritualen der Begrüßung bis zu romantischen Symbolhandlungen. Die Studie liefert damit nicht die abschließende Antwort, sondern ein robustes Fundament für interdisziplinäre Fragestellungen, die von Ethnologie über Evolutionspsychologie bis zu Molekularbiologie reichen.

Zusammenfassend plädiert die Arbeit dafür, das Küssen nicht ausschließlich als modernes kulturelles Produkt zu sehen, sondern als potenziell tief verwurzeltes, evolutionäres Verhalten mit vielfältigen funktionalen Vorteilen. Zukunftige Studien, die Verhaltensbeobachtung, mikrobiologische Analysen und ökologische Modellierung kombinieren, werden helfen, die komplexen Mechanismen hinter dieser alten sozialen Geste weiter zu entschlüsseln und die Verbindungslinien zwischen Primatenverhalten, menschlicher Sozialität und paläoanthropologischer Geschichte zu verfeinern.

Quelle: sciencealert

Kommentar hinterlassen

Kommentare