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Neue wegweisende Artikel in The Lancet warnen, dass ultraverarbeitete Lebensmittel weltweit traditionelle Ernährungsweisen rasch verdrängen, die ernährungsphysiologische Qualität mindern und den Anstieg ernährungsbedingter chronischer Krankheiten vorantreiben. Dies ist nicht primär eine Frage individueller Willensschwäche – sondern eine systemische Herausforderung der öffentlichen Gesundheit, angetrieben von einer hochprofitablen Lebensmittelindustrie. Die Befunde stützen Forderungen nach politischem Handeln, Marktregulierung und Maßnahmen zur Stärkung gesunder Lebensmittelumgebungen.
Was als ultraverarbeitet gilt — und warum das wichtig ist
Ultraverarbeitete Lebensmittel sind industrielle Formulierungen, die überwiegend aus extrahierten oder modifizierten Inhaltsstoffen bestehen, häufig kosmetische Zusatzstoffe wie Farbstoffe, Aromen und nicht-zyklische Süßstoffe enthalten und oft wenig bis kein intaktes Vollwertlebensmittel mehr aufweisen. Typische Beispiele sind Erfrischungsgetränke, salzige Snacks, Fertiggerichte zum Sofortverzehr und viele Frühstücksflocken. Die Kategorie umfasst eine breite Palette industriell optimierter Produkte, die in Geschmack, Textur und Haltbarkeit gezielt gestaltet wurden, um Vertrieb und Marketing zu skalieren.

Frühstückscerealien werden häufig aus industriellen Zutaten und kosmetischen Zusatzstoffen hergestellt.
Ernährungswissenschaftler und öffentliche Gesundheitsforscher nutzen zunehmend Klassifikationssysteme wie die NOVA-Klassifikation, um minimal verarbeitete Lebensmittel (Obst, Gemüse, Vollkorn, unverarbeitetes Fleisch) von ultraverarbeiteten Produkten zu unterscheiden — und diese Unterscheidung ist zweckdienlich. Ultraverarbeitete Produkte sind ausgelegt auf Geschmack, angenehme Textur und lange Haltbarkeit. Diese Eigenschaften erhöhen ihre Energie- und Geschmacksdichte, machen sie sehr palatable und erleichtern Überkonsum. Dadurch verändern sie Essgewohnheiten, Portionsgrößen und Essgeschwindigkeit; das hat direkte Konsequenzen für Übergewicht, Stoffwechselstörungen und allgemein für die Ernährungssicherheit.
Fundierte Belege, die ultraverarbeitete Ernährung mit schlechter Gesundheit verbinden
Der erste von drei Lancet-Artikeln fasst globale Daten zusammen, die zeigen, dass ultraverarbeitete Lebensmittel seit Jahrzehnten beständig in nationale Ernährungsprofile vordringen. In Ländern wie den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Kanada und Australien decken ultraverarbeitete Produkte bereits etwa die Hälfte der täglichen Energiezufuhr ab. In Regionen mit hoher Marktdurchdringung entsprechen diese Produkte de facto der nationalen Ernährung und verdrängen traditionelle Mahlzeiten, lokale Zutaten und häusliche Zubereitung.
Eine systematische Übersichtsarbeit, die in der Serie zitiert wird, bündelte 104 prospektive Kohortenstudien mit langfristiger Beobachtung; 92 davon berichteten über ein erhöhtes Risiko für mindestens eine chronische Erkrankung im Zusammenhang mit höherem Konsum ultraverarbeiteter Lebensmittel. Metaanalysen belegen Zusammenhänge mit Adipositas, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Dyslipidämie, kardiovaskulären Erkrankungen, chronischer Nierenerkrankung, Morbus Crohn, Depression sowie erhöhter Gesamtmortalität. Diese Assoziationen traten in verschiedenen Weltregionen und Bevölkerungsgruppen auf, was die Robustheit der Evidenz unterstreicht.
Randomisierte klinische Studien liefern mechanistische Hinweise: Wenn Erwachsene Diäten erhielten, die überwiegend aus ultraverarbeiteten Lebensmitteln bestanden, verglichen mit verglichenen Diäten mit denselben Makronährstoffverhältnissen, aber aus minimal verarbeiteten Lebensmitteln zusammengesetzt, konsumierten Teilnehmer:innen auf dem ultraverarbeiteten Menü etwa 500–800 Kalorien mehr pro Tag. Über die Studiendauer kam es zu Gewichtszunahme, erhöhtem Fettanteil und schnellerem Essverhalten. Wahrscheinliche Treiber sind die höhere Energiedichte, künstlich optimierte Geschmackseigenschaften und weiche Texturen, die zu größeren Bissen, schnellerem Kauen und abgeschwächten Sättigungssignalen führen. Solche Daten unterstützen biologische Plausibilitätsmechanismen und ergänzen epidemiologische Befunde.
Politische Steuerungsinstrumente, die den Trend bremsen — und umkehren — können
Die Lancet-Serie beschreibt praktikable politische Optionen, die Regierungen jetzt ergreifen können. Kein einzelner Eingriff wird das Problem allein lösen; Erfolg erfordert koordinierte Maßnahmenpakete, die an lokale Kontexte angepasst sind. Vier Politikfelder zeichnen sich als besonders wirksam ab und sollten in umfassende Strategien integriert werden:
1. Neu definieren, was reguliert wird
Einfaches Reformulieren einzelner Produkte — etwa Zucker durch nicht-zyklische Süßstoffe oder Fett durch fettähnliche Zusatzstoffe zu ersetzen — behebt nicht das zugrundeliegende Problem. Stattdessen könnten Regulierungsbehörden ultraverarbeitete Lebensmittel anhand klarer Marker definieren und einschränken, etwa industrielle Zusatzstoffe (Farben, Aromen, Süßstoffe ohne Zucker), spezifische Verarbeitungstechniken sowie hohe Anteile an Zucker, Salz oder gesättigten Fettsäuren. Die Festlegung von Grenzwerten für ausgewählte Zusatzstoffe und die Einführung einer rechtlich verwertbaren Kennzeichnungskategorie ‚ultraverarbeitet‘ würden zielgerichtete Regulierung erleichtern und Transparenz für Verbraucher erhöhen. Eine klare, konsistente Definition ist auch Voraussetzung für Überwachungsindikatoren, Steuerpolitik und Handelspolitik.
2. Lebensmittelumgebungen verbessern
- Einführung verpflichtender Front-of-Pack-Warnhinweise, wie international erprobt (z. B. Chile, Mexiko), die nachweislich Käufe reduzieren und Verbraucher besser informieren.
- Kinder unter 18 Jahre vor zielgerichteter digitaler und Rundfunkwerbung für ultraverarbeitete Produkte schützen; Schutzmaßnahmen sollten über klassische ‚Kinderzeiten‘ hinausgehen und zeitgemäße Marketingkanäle wie soziale Medien und Influencer einbeziehen.
- Eine Zuckersteuer auf zuckerhaltige Getränke von mindestens 20% einführen und die Prüfung gezielter Abgaben auf ausgewählte ultraverarbeitete Lebensmittel erwägen; die Einnahmen können verwendet werden, um Obst, Gemüse und frisch zubereitete Mahlzeiten für Haushalte mit niedrigem Einkommen zu subventionieren oder Schulverpflegung aufzuwerten.
- Ultraverarbeitete Artikel aus Schulen, Krankenhäusern und öffentlichen Einrichtungen entfernen und Handelsregeln erlassen, die Regalanteile, Platzierungspraktiken und Nähe von ultraverarbeiteten Waren zu Schulen in Einzelhandelsumgebungen begrenzen.
3. Unternehmensmacht begrenzen
Unternehmen, die auf ultraverarbeitete Lebensmittel spezialisiert sind, verfügen über globale Lieferketten, enorme Werbebudgets und ausgefeilte Lobbystrukturen. Regierungen können Wettbewerbspolitik stärken, Marktanteile und Portfolioanteile überwachen und begrenzen, die von ultraverarbeiteten Verkäufen abhängen, sowie steuerliche Reformen prüfen, die übermäßige Marktkonzentration reduzieren. Maßnahmen können auch Offenlegungspflichten, Transparenzregeln für Lobbying und strengere Regeln für öffentlich-private Partnerschaften umfassen, damit politische Entscheidungsprozesse nicht durch Interessenkonflikte verzerrt werden.
4. Subventionen und Lieferketten neu ausrichten
Die Umlenkung landwirtschaftlicher Subventionen weg von Monokultur-Rohstoffen, die als billige Inputs für ultraverarbeitete Produkte dienen — beispielsweise Mais, Soja und Zucker — würde Anreizstrukturen verändern. Politiken, die Umwelt- und Ernährungsziele verknüpfen (etwa das Verbinden von Plastikkonsum- und Wasserverbrauchszielen mit Ernährungszielen), unterstützen einen nachhaltigen Lebensmittelsektor, der gleichzeitig gesündere Diäten fördert. Investitionen in lokale Wertschöpfung, regionale Verarbeitung von frischen Lebensmitteln, kurze Lieferketten und kleinere, diversifizierte landwirtschaftliche Betriebe stärken Ernährungssouveränität und ökologische Resilienz.
Warum die Industrie weiterhin gewinnt — und wie man sich zur Wehr setzt
Ultraverarbeitung ist das profitabelste Geschäftsmodell in der Lebensmittelbranche. Große transnationale Konzerne stehen an der Spitze von Marketingnetzwerken, globalen Lieferketten und politischem Einfluss, was ihnen ermöglicht, Wissenschaft, öffentliche Debatten und politische Entscheidungen mitzugestalten. Sie investieren massiv in Werbung — 2024 lagen die kombinierten Werbeausgaben der führenden Unternehmen in vielen Fällen deutlich über dem gesamten operativen Haushalt der Weltgesundheitsorganisation — und nutzen eine bekannte Strategie aus Lobbying, Prozessführung, freiwilliger Selbstregulierung und gesponserter Forschung, um politische Maßnahmen zu verzögern oder zu verhindern.

Märkte werden stark von transnationalen Marken geprägt.
Um diesem Einfluss entgegenzutreten, fordern die Lancet-Artikel eine globale Antwort im Bereich der öffentlichen Gesundheit: Besteuerung der Herstellung ultraverarbeiteter Lebensmittel, Verpflichtungen zu unternehmensweiten Recyclingstrategien für Kunststoffe, strikte Regeln zu Interessenkonflikten beim Policymaking und in der Forschung, das Ende der alleinigen Verlassung auf industrieeigene Selbstregulierung sowie den Aufbau sektorübergreifender Koalitionen, die rechtliche und politische Veränderung vorantreiben können. Solche Maßnahmen würden die Transparenz erhöhen, die Rechenschaftspflicht stärken und die Außerkraftsetzung schädlicher Geschäftsmodelle erleichtern.

Unsere Artikel zeigen: Ohne koordinierte Maßnahmen werden ultraverarbeitete Lebensmittel weiterhin traditionelle Speisen und Mahlzeiten verdrängen und so Gesundheit, Kultur, Wirtschaft und Umwelt schwächen.
Experteneinschätzung
„Die Evidenz hat einen Kipppunkt erreicht“, sagt Dr. Maya Thompson, Ernährungs-Epidemiologin am Global Food Policy Institute. „Es geht nicht darum, Verbraucher zu beschuldigen: Es geht darum, die Kontexte zu verändern, in denen Menschen Ernährungsentscheidungen treffen. Gut gestaltete, konsequente Politiken können Märkte verändern und dafür sorgen, dass gesündere, minimal verarbeitete Optionen für alle deutlich zugänglicher und erschwinglicher werden.“
Die Umsetzung dieser Politiken erfordert politischen Willen, sektorübergreifende Zusammenarbeit und öffentliche Einbindung. Politiker können mit praktischen Maßnahmen beginnen, die evidenzbasiert Wirkung zeigen: Warnhinweise auf Verpackungen, Werbebeschränkungen für Kinder, gezielte Steuern und Reformen bei Subventionen. Zusammengenommen reduzieren solche Instrumente nachweislich den Konsum schädlicher Produkte, stärken gesunde Lebensmittelumgebungen und begünstigen eine Umverteilung von Nachfrage und Produktion hin zu ausgewogeneren Diäten.
Faktisch bedeutet Schutz der öffentlichen Gesundheit auch, Unternehmensstrategien frontal zu konfrontieren, die Profit über Ernährungsqualität stellen. Die Lancet-Serie argumentiert, dass eine globale, koordinierte Reaktion im Interesse der öffentlichen Gesundheit, rechtlich verankert und finanziell gestützt sowie durch zivilgesellschaftliches Engagement getragen, angesichts der vorliegenden Evidenz gerechtfertigt ist. Entscheidend ist jetzt politisches Handeln auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, um Ernährungssysteme nachhaltiger und gesundheitsschonender zu gestalten.
Zusätzliche technische Überlegungen: Überwachungsindikatoren sollten standardisierte Metriken für den Anteil ultraverarbeiteter Energiezufuhr, Werbeexposition und Marktanteile enthalten. Forschungsförderung muss unabhängige, langfristige Studien zur Wirkung politischer Maßnahmen unterstützen. Außerdem sind Bildungsprogramme nötig, die nicht allein individuelles Verhalten adressieren, sondern strukturelle Determinanten betonen — etwa Verfügbarkeit, Preis, Zeit für Zubereitung und kulturelle Präferenzen. Interventionsforschung sollte Kombinationen aus Regulierung, finanziellen Anreizen und communitybasierten Programmen testen, um skalierbare Modelle zu identifizieren.
Praktische Beispiele erfolgreicher Maßnahmen zeigen: Länder mit klaren Front-of-Pack-Warnungen und zuckerbezogenen Abgaben berichten frühzeitig über Rückgänge bei gezielten Zuckergetränken, Anpassungen in der Produktrezeptur und umverteilte Ausgabenmuster. Initiativen zur Schulverpflegung, die frische, lokal erzeugte Zutaten priorisieren, verbessern Ernährungsqualität und unterstützen regionale Produzenten, was positive Rückkopplungseffekte auf Ernährungssicherheit und lokale Wirtschaft hat. Solche Best-Practice-Fälle können als Vorbild dienen, müssen aber an nationale Gegebenheiten angepasst werden.
Schließlich sollten Stakeholder-Allianzen, bestehend aus Wissenschaft, Gesundheitsbehörden, Gemeinwesenorganisationen und verantwortungsvollen Wirtschaftsakteuren, aufgebaut werden, um geteilte Ziele zu formulieren, Pilotprojekte zu finanzieren und politische Prozesse zu begleiten. Nur durch eine Kombination aus Regulierung, Anreizen und öffentlicher Mobilisierung lässt sich der beschriebene Trend wirksam aufhalten.
Quelle: sciencealert
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