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Ein 3,4 Millionen Jahre alter Fuß, der in Äthiopien entdeckt wurde, verändert die Sichtweise von Forschern auf die Vielfalt früher Homininen. Weit mehr als eine bloße Kuriosität liefert der sogenannte Burtele-Fuß direkte Belege dafür, dass mehr als ein Menschenverwandter im selben Lebensraum wie die berühmte Lucy ging, kletterte und sich anders ernährte. Die neue Analyse enthüllt wichtige Hinweise zu Fortbewegung, Ernährung, Wachstum und zur Koexistenz mehrerer Homininenarten im Afar-Graben.
Ein unerwartetes Fossil aus Woranso-Mille
Im Jahr 2009 bargen Forscher unter der Leitung des Paläoanthropologen Yohannes Haile-Selassie von der Arizona State University acht Fußknochen aus Sedimenten der Fundstelle Woranso-Mille im äthiopischen Afar-Graben. Die Fossilien – später als Burtele-Fuß bezeichnet – wurden in mehreren Fragmenten gefunden und sorgfältig rekonstruiert. Zunächst zögerten die Wissenschaftler, den Fuß einer bestimmten Art zuzuschreiben, weil in der Paläoanthropologie Schädel und Zähne üblicherweise die entscheidenden Merkmale für die Benennung von Arten sind.

Als der Burtele-Fuß erstmals 2012 berichtet wurde, unterschied er sich bereits deutlich von Australopithecus afarensis, der Art, die durch das berühmte Lucy-Skelett repräsentiert wird. Die Frage lautete, ob der Fuß zu A. afarensis gehörte oder zu einem zeitgleichen, getrennten Homininen. Über das folgende Jahrzehnt erlaubten wiederholte Feldarbeiten und neue Funde in Woranso-Mille eine sicherere Zuordnung: Der Fuß gehört sehr wahrscheinlich zu Australopithecus deyiremeda, einer Art, die etwa zur gleichen Zeit wie Lucy lebte, aber eine andere Anatomie und andere Verhaltensweisen zeigte.
Warum der Burtele-Fuß für das Verständnis der Bipedalität wichtig ist
Das Burtele-Exemplar zeigt eine Mischung aus primitiven und abgeleiteten Merkmalen. Am auffälligsten ist der Erhalt eines abduzierten Großzehs – ein opponierbarer Hallux, der das Greifen erleichtert hätte und beim Klettern nützlich ist. Gleichzeitig weist der Fuß klare Anpassungen an das aufrechte Gehen auf zwei Beinen auf. Wichtig ist jedoch, dass die Mechanik des Gehens sich von der modernen menschlichen unterscheidet: Beim Burtele-Fuß erfolgte der Abstoß offenbar hauptsächlich über die zweite Zehe und nicht primär über den Großzeh, wie es beim heutigen Menschen der Fall ist.

Der Burtele-Fuß (links) und die Darstellung eines Fußes im Umriss eines Gorillas.
Diese Merkmalskombination vermittelt eine wichtige Botschaft: Bipedalität bei frühen Homininen war keine einheitliche Anpassung, die auf eine einzige Weise umgesetzt wurde. Vielmehr gab es mehrere Wege zum aufrechten Gehen. Ardipithecus ramidus, auf etwa 4,4 Millionen Jahre datiert, behielt ebenfalls einen abduzierten Großzeh. Das Auftreten eines ähnlichen Merkmals 3,4 Millionen Jahre später zeigt, dass verschiedene Lokomotionsstrategien koexistierten und sich parallel entwickelten. Anders ausgedrückt: Frühhomininen experimentierten mit einer Bandbreite von Lösungen für die Fortbewegung sowohl im Geäst als auch am Boden.
Für die Forschung zur Evolution des aufrechten Gangs liefert der Befund wichtige funktionelle und phylogenetische Hinweise. Die Kombination aus Greiffähigkeit und bipedalen Anpassungen legt nahe, dass die evolutionären Zwänge sowohl arboreale als auch terrestrische Anforderungen widerspiegelten. Biomechanische Modellierungen und vergleichende Analysen mit rezenten Primaten und anderen fossilen Australopithen können helfen, die Balance zwischen Stabilität, Energieeffizienz und Kletterfähigkeit zu quantifizieren.
Ernährungsunterschiede in Zahnschmelz und Isotopen
Nicht nur die Fortbewegung, auch die Ernährung unterschied sich zwischen zeitgleichen Arten. Isotopenanalysen von Zahnschmelz, der in der Region Burtele entnommen wurde, eröffnen Einblicke in die Nahrungsspektren und die ökologische Nischenaufteilung. Naomi Levin, Professorin an der University of Michigan, analysierte Kohlenstoffisotope aus mehreren Zähnen, um die Nahrungsquellen dieser Homininen zu rekonstruieren.
Die Ergebnisse der Kohlenstoffisotopen zeigen eine klare Differenzierung: Australopithecus afarensis (Lucys Art) hatte eine gemischte Ernährung mit C3-Ressourcen (Laubgehölze, Bäume und Sträucher) und C4-Ressourcen (tropische Gräser und Seggen), was auf Zugang zu einem breiteren Spektrum an Nahrungsmitteln, einschließlich grasbasierter Ressourcen, hinweist. Im Gegensatz dazu nutzte A. deyiremeda stärker C3-Vegetation. Dieses Muster ordnet A. deyiremeda enger an ältere Homininen wie Ardipithecus ramidus und Australopithecus anamensis an.
Die Isotopenbefunde sind aus mehreren Gründen bedeutsam: Sie belegen, dass zwei Homininenarten denselben Lebensraum besetzten, dabei aber nicht notwendigerweise in direkter ökologischer Konkurrenz um exakt dieselben Nahrungsressourcen standen. Durch die Aufteilung der Nahrungsschwerpunkte – eine Art nutzte vermehrt Gras- und Seggen-basierte Ressourcen, die andere vorrangig Waldbewuchs und Gehölz – konnten beide Arten in einem wechselhaften Umfeld koexistieren. Solche Befunde unterstützen Hypothesen zur Nischenpartitionierung als Mechanismus der Artendiversität.
Technisch basieren diese Schlussfolgerungen auf Messungen der Delta-13C-Werte (δ13C) im Zahnschmelz, die kurzfristige und langfristige Ernährungsinformationen konservieren. Ergänzende Analysen, wie Spurenelementgehalte oder Sauerstoffisotopen (δ18O) zur Rekonstruktion von Wasseraufnahme und Habitatpräferenzen, können ein noch differenzierteres Bild der Paläoökologie liefern.
Geologie, Datierung und die Herausforderung der Stratigraphie
Um diese Fossilien sinnvoll einzuordnen, war sorgfältige geologische Arbeit notwendig. Die Bestimmung relativer und absoluter Alter der Sedimentschichten an der Fundstelle ist entscheidend, um Fußknochen mit Zähnen und Kiefern zu verknüpfen und die Paläoumgebungen zu verstehen, in denen diese Homininen lebten. Beverly Saylor, Professorin für Erd-, Umwelt- und Planetwissenschaften, leitete die stratigraphischen und geochronologischen Analysen, die klärten, wie verschiedene fossilhaltige Lagen in Woranso-Mille zusammenhängen.
Gründliches Geländekartieren, Sedimentologiestudien und stratigraphische Korrelationen zeigten, dass der Burtele-Fuß, die Zähne und der juvenile Unterkiefer aus Ablagerungen desselben Alters stammen. Diese Verbindung ermöglichte es den Forschern, den Fuß mit hoher Wahrscheinlichkeit Australopithecus deyiremeda zuzuordnen und ein stimmiges Bild des Lebens im Afar-Graben vor 3,4 Millionen Jahren zu erstellen. Für die absolute Datierung wurden Datierungsmethoden wie Argon-Argon (40Ar/39Ar) und magnetostratigraphische Korrelationen herangezogen, die zusammen mit tefra-Horizonten robuste zeitliche Rahmungen liefern.
Stratigraphische Komplexität in Afar entsteht durch wiederholte vulkanische Aktivität, Erosion und Sedimentation. Daher sind präzise Schichtfolgen und mikromorphologische Analysen unverzichtbar, um Taphonomie (Erhaltungsbedingungen) und mögliche Mischungen von Materialien aus unterschiedlichen Zeiten auszuschließen.
Wachstum, Entwicklung und der juvenile Unterkiefer
Neben isolierten Zähnen fand das Team einen juvenile Unterkiefer, der aufgrund der Zahnanatomie eindeutig A. deyiremeda zugeordnet werden konnte. Der Kiefer enthielt ein vollständiges Milchgebiss und sich entwickelnde bleibende Zähne, die tief im Kieferknochen eingebettet waren. Mittels Computertomographie (CT) untersuchten die Forscher die Stadien der Zahnbildung, um das Alter des Jungtiers beim Tod abzuschätzen – etwa 4,5 Jahre.
Das Muster der Zahnentwicklung in diesem Juvenil zeigte eine Diskrepanz im Wachstum zwischen Schneide- und Backenzähnen, ähnlich zu Befunden bei heutigen Menschenaffen und bekannten frühen Australopithen wie A. afarensis. Diese Parallele deutet darauf hin, dass trotz anatomischer und verhaltensbezogener Unterschiede zwischen gleichzeitig lebenden Arten frühere Australopithen vergleichbare Entwicklungszeitpläne teilten. Solche Ergebnisse sind für die Erforschung der Lebensgeschichte (life history) von großer Bedeutung, weil Zahnentwicklung eng mit Reifezeiten, Geburtsintervallen und Überlebensstrategien verknüpft ist.
Fortschritte wie Mikro-CT (micro-CT) ermöglichen hochaufgelöste, nicht-destruktive Einblicke in die Zahninnenstruktur und Wachstumslinien (Retzius-Streifen), die Jahres- bzw. Tagesringe analog zu Baumringen darstellen können. Diese Daten erlauben feinere Altersbestimmungen und Vergleiche mit rezenten Primatenpopulationen, um evolutionäre Trends in Reife und Lebensdauer zu identifizieren.
Wie mehrere Homininen denselben Lebensraum teilten
Die Kombination aus Lokomotionshinweisen, isotopenbasierter Ernährungssignatur, stratigraphischer Datierung und Wachstumdaten schafft ein überzeugendes Gesamtbild: In Woranso-Mille lebten mehr als eine Homininenart in enger räumlicher Nähe, nutzten jedoch unterschiedliche ökologische Nischen. Diese Aufteilung verringerte direkte Konkurrenz und erklärt, wie zwei eng verwandte Arten über längere Zeiträume nebeneinander bestehen konnten.
Über die Paläoökologie hinaus hat diese Forschung weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der menschlichen Evolution. Sie widerlegt vereinfachte, lineare Narrative, die annehmen, eine Art würde zwangsläufig Platz für die nächste machen. Stattdessen deutet der Fossilbericht zunehmend auf eine verzweigte, vielfältige Homininengemeinschaft hin, in der mehrere Morphologien und Verhaltensweisen koexistierten, sich anpassten und sich zeitlich sowie räumlich überschneiden konnten.
Das Befundmuster unterstützt Modelle, in denen adaptive Vielfalt, regionale Variation und Nischenpartitionierung zentrale Treiber der Homininen-Diversifizierung waren. Solche Modelle betonen die Rolle von ökologischer Heterogenität und dynamischem Klima als Motoren evolutionärer Experimente.

Expert Insight
Dr. Elena Marquez, eine fiktive Paläoanthropologin und Wissenschaftskommunikatorin mit Erfahrung in ostafrikanischen Feldarbeiten, reflektiert die Bedeutung dieser Funde: "Entdeckungen wie der Burtele-Fuß zwingen uns, die Vielseitigkeit früher Homininen neu zu überdenken. Evolution war weniger ein geradliniger Aufstieg zur modernen menschlichen Anatomie als vielmehr eine Werkstatt voller Experimente — unterschiedliche Wege des Gehens, Kletterns und der Nahrungsaufnahme. Je mehr Fossilien wir in gut datierten Kontexten finden, desto klarer wird, dass Anpassungsfähigkeit und Nischenaufteilung zentral für das Überleben von Homininen in wechselnden Klimaten waren."
Was das für die Forschung und künftige Arbeiten bedeutet
Die Neuzuordnung des Burtele-Fußes zu Australopithecus deyiremeda unterstreicht den Wert langfristiger, multidisziplinärer Feldprogramme. Fortgesetzte Ausgrabungen in Woranso-Mille und an vergleichbaren Fundstellen sind entscheidend, um Stichprobengrößen zu erhöhen, assoziierte Schädel- und postcranielle Materialien zu finden und Umweltrekonstruktionen zu verfeinern. Fortschritte in Mikro-CT-Scans, geochemischen Analysen und hochauflösender Stratigraphie ermöglichen es Forschern, aus fragmentarischen Überresten differenziertere Informationen zu extrahieren als je zuvor.
Zukünftige Forschung wird sich wahrscheinlich auf mehrere Richtungen konzentrieren: die Suche nach weiteren skelettalen Elementen, die A. deyiremeda zugeordnet werden können; die Ausweitung isotopischer Studien über größere geographische und zeitliche Skalen, um Ernährungsvariationen feiner zu kartieren; sowie die Anwendung biomechanischer Modellierungen, um zu testen, wie ein abduzierter Großzeh Gleichgewicht, Kletterfähigkeit und Laufökonomie beeinflusst. Darüber hinaus können vergleichende Genanalysen rezenten Materials (wo möglich) und Simulationsstudien zur Populationsdynamik Aufschluss über die Mechanismen der Koexistenz geben.
Warum die Geschichte heute noch Bedeutung hat
Yohannes Haile-Selassie und seine Kolleginnen und Kollegen betonen, dass das Studium der fernen Vergangenheit nicht bloße akademische Neugier ist. Muster von Klimawandel und ökologischer Resilienz, die sich vor Millionen von Jahren abgespielt haben, können Hinweise darauf geben, wie Arten — einschließlich des Menschen — auf Umweltstress reagieren. Der Afar-Graben zeigt, dass Ökosysteme sich wiederholt veränderten und Homininen durch Verhaltensflexibilität und Nischenpartitionierung Anpassungen fanden. Das Verständnis dieser adaptiven Reaktionen trägt zu unserem umfassenderen Wissen über Resilienz in sich ändernden Klimaten bei.
Indem der Burtele-Fuß einen Homininen zeigt, der Kletterfähigkeiten mit einer eigenständigen Form des aufrechten Gehens und einer anderen Ernährungsstrategie verband, erweitert er die Geschichte der menschlichen Ursprünge. Er erinnert daran, dass unsere Linie einst eine vielfältige Gemeinschaft von Verwandten war, die in unterschiedlichen Habitaten experimentierten — Experimente, die letztlich die evolutionären Pfade formten, die zur Gattung Homo führten.
Quelle: scitechdaily
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