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In diesem Jahr hat die International Diabetes Federation (IDF) einen entscheidenden Schritt unternommen: Sie hat die Anerkennung einer eigenen Diabetesform, die lange mit schwerer Unterernährung in Verbindung gebracht wurde, formal wiederhergestellt. Häufig in globalen Gesundheitsdebatten übersehen, wird diese mangelernährungsassoziierte Form des Diabetes inzwischen als Typ 5 bezeichnet. Schätzungen zufolge sind weltweit Millionen Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen betroffen. Typ 5 stellt andere Anforderungen an Diagnostik, Therapie und Gesundheitsversorgung als die klassischen Formen Typ 1 oder Typ 2.
Warum ein neuer Diabetes-Name wichtig ist
Über Jahrzehnte stritten Kliniker und Forscher darüber, ob ein mangelernährungsbedingter Diabetes als eigenständige Entität existiert. Erste Beschreibungen stammen aus den 1950er-Jahren aus Jamaika; in den 1980er-Jahren erkannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Form an, bevor sie 1999 wegen uneinheitlicher Evidenz wieder aus den Klassifikationen verschwand. Die IDF fordert nun andere Gesundheitsbehörden auf, eine fünfte Kategorie – Typ 5 Diabetes – zu akzeptieren, damit Forscher, Geldgeber und behandelnde Ärztinnen und Ärzte endlich einheitliche Kriterien zur Identifikation und Behandlung entwickeln können.
Typ 5 unterscheidet sich vorrangig durch seine Entstehung: Anstatt hauptsächlich durch Übergewicht, Schwangerschaftshyperglykämie, autoimmune Zerstörung insulinproduzierender Beta-Zellen oder durch eine Pankreasverletzung hervorgerufen zu werden, scheint Typ 5 mit chronischen Nährstoffdefiziten während kritischer Wachstumsphasen verbunden zu sein. Eine solche Vorgeschichte von Unterernährung beeinträchtigt offenbar die Entwicklung des Pankreas und die lebenslange Insulinproduktion und führt zu einem metabolischen Bild, das sich deutlich von dem bei Typ 1 oder Typ 2 unterscheidet.
Die Benennung als Typ 5 hat weitreichende Implikationen: Sie kann die Sichtbarkeit in epidemiologischen Erhebungen verbessern, gezielte Forschungsförderung ermöglichen und die Entwicklung spezieller Behandlungsleitlinien beschleunigen. Zudem könnte eine formelle Klassifikation dazu beitragen, die Versorgungslücken in Regionen mit hoher Ernährungsunsicherheit zu schließen, da Diagnostik, Schulung und Präventionsprogramme besser geplant und finanziert werden können.
Belege aus Kliniken und Feldstudien
Aktuelle Studien, durchgeführt an Tiermodellen sowie in longitudinalen Kohortenstudien beim Menschen, untermauern die These, dass Nährstoffmangel in der frühen Lebensphase die Pankreasstruktur und -funktion dauerhaft verändern kann. Forschergruppen, die in Südasien und Afrika tätig sind, haben Patientengruppen dokumentiert, die einen charakteristischen Insulinmangel aufweisen, der sich klar von der Autoimmunvariante des Typ-1-Diabetes unterscheidet. Gleichzeitig bleibt bei vielen dieser Patienten die Insulinsensitivität erhalten, anders als bei klassischem Typ 2 Diabetes.

Diese Kombination aus reduziertem Insulinangebot und erhaltener Insulinempfindlichkeit ist klinisch relevant: Therapieansätze, die primär auf die Senkung der Insulinresistenz zielen, sind möglicherweise wirkungslos, wenn die Ursache ein eingeschränkter Insulinoutput ist. Noch problematischer ist, dass eine unkritische oder unangemessene Insulinzufuhr in Kontexten mit fortdauernder Nahrungsmittelunsicherheit das Risiko schwerer Hypoglykämien erhöht. Das Management erfordert daher ein feines Abwägen zwischen der Vermeidung von Hyperglykämie und dem Schutz vor Hypoglykämie, insbesondere bei wechselnder Nahrungszufuhr.
Obwohl die bisher publizierten randomisierten Studien klein und die Beobachtungsdaten heterogen sind, legen sie nahe, dass weltweit Millionen Menschen betroffen sein könnten. Einige Schätzungen gehen von bis zu 25 Millionen Betroffenen aus, konzentriert in Regionen, in denen längerfristige Nahrungsmittelknappheit, Armut und eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsdiensten zusammentreffen.
Wissenschaftlich relevant sind neben epidemiologischen Erhebungen auch histologische und molekulare Befunde: Tierexperimentelle Arbeiten zeigen, dass Protein- und Kaloriendefizite während der fötalen und frühen postnatalen Phase zu einer Reduktion der Betazellen und zu epigenetischen Veränderungen führen können, die die Insulinexpression über die Lebensspanne beeinflussen. Humanstudien ergänzen diese Daten durch Biomarker-Analysen, die reduzierte pankreatische Reserve und veränderte Insulinsekretionsmuster nachweisen.
Diagnose und Behandlung von Typ 5: eine praktische Herausforderung
Eines der Hauptprobleme ist die diagnostische Unschärfe. Ohne international abgestimmte Kriterien werden solche Patienten häufig fälschlicherweise als Typ 1 oder Typ 2 klassifiziert und entsprechend behandelt – was mitunter schädliche Folgen hat. Insulinprotokolle, die für autoimmune Formen entwickelt wurden, sind zum Beispiel für Personen mit partieller Insulininsuffizienz und ständigem Unterernährungsrisiko ungeeignet.
Führende Expertinnen und Experten fordern, dass Diagnoserichtlinien eine Kombination aus klinischer Anamnese (insbesondere frühkindliche Unterernährung), metabolischen Tests, die ein charakteristisches Insulin-Glukose-Profil zeigen, und, wo möglich, spezifischen Biomarkern zur Abschätzung der pankreatischen Kapazität verbinden. Solche Biomarker könnten neben C-Peptid-Messungen auch novelere Parameter wie Pankreas-Enzym-Level oder epigenetische Marker umfassen, sofern sie in ressourcenbegrenzten Umgebungen praktikabel sind.
Die IDF hat eine Arbeitsgruppe gegründet, die unter der Leitung der Endokrinologin Meredith Hawkins Kriterien erarbeiten, ein globales Register aufbauen und Schulungsmaterialien für Gesundheitspersonal an der Basis erstellen soll. Ziel ist es, praxisnahe Algorithmen zu entwickeln, die sowohl Diagnostik als auch Therapieempfehlungen enthalten und sich an den Bedingungen in Regionen mit knappen Ressourcen orientieren.
Wesentliche diagnostische Elemente, die diskutiert werden, sind:
- Eine gezielte Anamnese zur Erfassung frühkindlicher Mangelernährung und Wachstumsverzögerungen.
- Messung von Nüchternglukose, HbA1c und C‑Peptid zur Einschätzung der Insulinproduktion.
- Einsatz von oralen oder intravenösen Stimulationstests zur genaueren Bestimmung der residualen Beladungsantwort.
- Pragmatische Kriterien für die Unterscheidung von Typ 5 versus Typ 1/Typ 2, die auch in Regionen ohne umfangreiche Laborinfrastruktur anwendbar sind.
Entscheidend ist, dass die Diagnose nicht allein laborchemisch erfolgen darf: Die sozialen Determinanten der Gesundheit – Ernährung, wiederkehrende Infektionen, mütterliche Gesundheit und sozioökonomischer Status – müssen in die Entscheidungsfindung einfließen.
Wie eine Behandlung aussehen könnte
Therapeutische Strategien für Typ 5 Diabetes werden sich voraussichtlich von den Routinen in wohlhabenden Ländern unterscheiden. Manche Patientinnen und Patienten benötigen möglicherweise niedrig dosierte, intermittierende Insulinergänzungen, um Hyperglykämie zu verhindern, ohne das Hypoglykämierisiko unnötig zu erhöhen. Andere könnten von oralen Antidiabetika oder spezifischen Ernährungsinterventionen profitieren, die die verbleibende Insulinsekretion stimulieren.
Prävention und Behandlung sollten immer zusammengedacht werden: Maßnahmen zur Bekämpfung von Ernährungsmängeln, zur Verbesserung der Nahrungsversorgung und zur Förderung von Mutter-Kind-Ernährung haben sowohl präventiven als auch therapeutischen Wert. In der Praxis bedeutet dies, medizinische Versorgung mit Ernährungsberatung, Nahrungsergänzung und sozialer Unterstützung zu verknüpfen.
Da kontinuierliche Glukosemesssysteme und Insulinpumpen in den am stärksten betroffenen Regionen oft unerschwinglich sind, besteht ein hoher Bedarf an einfachen, sicheren Algorithmuslösungen für den Einsatz durch Community Health Worker. Solche Algorithmen sollten:
- eindeutige Kriterien für die Indikation einer Insulintherapie liefern,
- konkrete Dosierungs- und Überwachungsrichtlinien enthalten, die Hypoglykämien minimieren,
- Empfehlungen für Ernährungssituationen mit variabler Nahrungszufuhr geben,
- und klare Schulungsmaterialien für Patientinnen, Patienten und deren Familien beinhalten.
Gleichzeitig sind strukturierte Programme zur Stärkung der Ernährungssicherheit, zur Unterstützung stillender Mütter und zur Förderung der frühen Kindergesundheit entscheidend, da sie die primären Risikofaktoren adressieren und damit langfristig die Inzidenz von Typ 5 reduzieren können.

Auswirkungen auf globale Gesundheit und Forschung
Die Anerkennung durch die IDF ist mehr als eine begriffliche Übung: Sie ist ein Aufruf zum Handeln. Ohne eine formale Kategorie bleibt der Zustand für große Förderorganisationen unsichtbar und in globalen Krankheitsschätzungen untererfasst. Dies bremst Forschung zu spezifischer Pathophysiologie, Diagnostik und auf ressourcenbegrenzte Settings zugeschnittenen Therapien.
Während einige Forschende den Schritt als überfällig begrüßen, warnen andere, dass die Datenlage heterogen bleibt und diagnostische Sicherheit kurzfristig schwer zu erreichen sein wird. Beide Positionen stimmen jedoch in einem Punkt überein: Das Fehlen eines Konsenses fördert Fehlklassifikationen und verpasst Chancen für eine bessere Versorgung.
In den Regionen, in denen die Erkrankung am häufigsten ist – Teilen Asiens, Subsahara-Afrika und zunehmend auch in Bereichen Lateinamerikas und der Karibik – erfordern effektive Interventionen koordinierte klinische Leitlinien, Community‑Ernährungsunterstützung und Investitionen in grundlegende Laborkapazitäten. Dazu zählen die Verfügbarkeit einfacher Blutzuckertests, C‑Peptid‑Messungen und Schulungsprogramme für das lokale Gesundheitspersonal.
Aus Forschungs‑ und Entwicklungs-Perspektive sind mehrere Felder besonders wichtig:
- Längsschnittstudien zur Bestimmung der Prävalenz und der natürlichen Geschichte von Typ 5 Diabetes,
- Interventionsstudien, die Ernährungstherapien mit pharmakologischen Ansätzen kombinieren,
- Entwicklung kostengünstiger Biomarker zur Abschätzung der Pankreasreserve,
- Evaluierung von task-shifting-Strategien, bei denen geschulte Laien die Versorgung unter Aufsicht übernehmen.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
"Wenn das Pankreas eines Patienten durch Jahre schlechter Ernährung geprägt wurde, stimmt die metabolische Signatur nicht mit den klassischen Lehrbuchbeschreibungen überein", sagt Dr. Elena Morales, eine globale Endokrinologin, die in Feldkliniken in Kenia und Indien gearbeitet hat. "Klinische Teams benötigen Instrumente, die diese Realität abbilden: einfache Diagnose-Checklisten, klare insulin-schonende Protokolle und robuste Ernährungsprogramme. Andernfalls riskieren wir, gut gemeinte Behandlungen anzuwenden, die Schaden anrichten."
Solche praxisnahen Stimmen betonen, dass sowohl medizinische als auch soziale Interventionen nötig sind. Nur mit integrierten Programmen, die klinische Versorgung, öffentliche Gesundheit und Nahrungssicherheit verbinden, lässt sich eine nachhaltige Verbesserung erreichen.
Worauf man als Nächstes achten sollte
Die IDF-Arbeitsgruppe plant, diagnostische Kriterien und Behandlungsempfehlungen zu veröffentlichen sowie ein multinationales Register zur Sammlung standardisierter Daten zu etablieren. Dieses Register könnte wichtige Prävalenztrends aufdecken und klären, ob die Zahl der Menschen mit Typ 5 Diabetes steigt oder fällt, wenn sich Ernährungs‑ und Versorgungssituationen wandeln.
Fortschritt wird von Zusammenarbeit abhängen: Endokrinologinnen und Endokrinologen, hausärztlich tätige Medizinerinnen und Mediziner, Expertinnen und Experten der öffentlichen Gesundheit sowie lokale Organisationen müssen zusammenarbeiten, um eine formale Einordnung in tatsächliche Verbesserungen der Versorgung umzusetzen – insbesondere dort, wo begrenzte Ressourcen und Ernährungsunsicherheit die Folgen verschärfen.
Politik- und Public-Health-Prioritäten
Über die klinische Praxis hinaus erfordert die Reaktion auf Typ 5 Diabetes eine Stärkung der Mutter-Kind-Ernährung, die Erweiterung des Zugangs zu erschwinglicher Diagnostik und die Integration von Diabetesversorgung in umfassendere Programme zur Armuts- und Hungerbekämpfung. Diese Kombination greift sowohl die Ursachen als auch die medizinischen Folgen an.
Die offizielle Anerkennung durch die IDF rückt eine lange vernachlässigte Diagnose wieder auf die globale Gesundheitsagenda. Das Benennen der Erkrankung ist nur der erste Schritt; die schwierigere Arbeit besteht nun darin, evidenzbasierte Instrumente und gerechte Gesundheitssysteme aufzubauen, damit Menschen, deren Diabetes aus Unterernährung entstanden ist, endlich die richtige Versorgung erhalten.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Wiederaufnahme des mangelernährungsassoziierten Diabetes in die internationale Klassifikation kann Forschungsinvestitionen, politische Aufmerksamkeit und praktische Verbesserungen in der Versorgung mobilisieren. Entscheidend sind jedoch koordinierte Maßnahmen auf klinischer, kommunaler und politischer Ebene, um sowohl die unmittelbaren medizinischen Bedürfnisse als auch die zugrunde liegenden sozialen Determinanten wie Ernährungssicherheit zu adressieren.
Quelle: sciencealert
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