9 Minuten
Ein rätselhaftes chemisches Signal im Grönlandeis
In einem Eisbohrkern aus Zentralgrönland wurde ein deutliches, kurzlebiges Platin-Signal entdeckt, datiert auf etwa 12.800 Jahre vor heute. Diese Anomalie wurde von einigen Forschergruppen als forensischer Hinweis auf ein katastrophales außerirdisches Ereignis – etwa den Einschlag eines Meteoriten oder Kometen – interpretiert, das angeblich die plötzliche Abkühlungsphase namens Younger Dryas ausgelöst haben soll. Neue geochemische Untersuchungen deuten jedoch auf eine wesentlich weniger exotische Quelle hin: Vulkanismus, vermutlich in Form von Spalten‑ oder Unterwassereruptionen im nördlichen Atlantikraum, vor allem in Island.
Das chemische Signal zeigt sich als klarer Peak in der Platingehaltskurve, der relativ kurz anhält, aber eine auffällige Konzentrationssteigerung gegenüber dem Hintergrundwert aufweist. Solche kurzzeitigen Metallpulse hinterlassen sich typisch in Eiskernen als scharf begrenzte Schichten und erlauben, mit präzisen Datierungsmethoden, den zeitlichen Zusammenhang zu klimatischen Ereignissen zu prüfen. Die neue Interpretation berücksichtigt nicht nur die elementaren Signaturen selbst, sondern auch Transportmechanismen in der Atmosphäre, Kondensationsprozesse an Partikeln und die regionale Vulkanologie, um eine robuste Erklärung zu bieten.
Die Untersuchungen kombinieren geochemische Fingerabdrücke mit verbesserter Chronologie und vergleichen mögliche terrestrische versus extraterrestrische Quellen systematisch. Ergebnis: Ein vulkanischer Ursprung aus dem Nordatlantikraum kann viele Aspekte des Signals besser erklären als ein einmaliger Einschlagkörper.

Wissenschaftlicher Hintergrund und konkurrierende Hypothesen
Es konkurrieren im Wesentlichen zwei übergeordnete Klassen von Erklärungen für das plötzliche Klimaphänomen des Younger Dryas. Die klassische, lang etablierte These betont einen massiven Süßwassereintrag aus schmelzenden nordamerikanischen Eisschilden, der die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) stark störte und dadurch den Nordatlantik sowie angrenzende Regionen rapide abkühlen ließ. Dieser Mechanismus beruht auf der Idee, dass veränderte Salzgehalte und Dichteverhältnisse den Ozeanzirkulationsmotor aus dem Gleichgewicht bringen und damit die nordwärts gerichtete Wärmeübertragung verringern können.
Als Alternative werden abrupte, extern forcierte Störungen diskutiert: Ein außerirdischer Einschlag, der große Mengen Staub, Schmelzprodukte und Aerosole in die Atmosphäre schleudert, könnte kurzzeitig die Sonneneinstrahlung reduzieren. Eine andere Möglichkeit ist eine ungewöhnlich große vulkanische Eruption, die Schwefelverbindungen bis in die Stratosphäre injiziert und so hemisphärische — teils sogar globale — Abkühlung verursacht. Beide Szenarien haben unterschiedliche Vorzeichen in den geochemischen und sedimentären Aufzeichnungen und erfordern verschiedene Arten von Beweismitteln.
Ein entscheidender Baustein für die Einschlagshypothese war der Bericht von 2013 über eine scharfe Platinanreicherung in einem von GISP2 geborgenen Grönlandeisbohrkern. Die chemische Signatur — hohe Platingehälter kombiniert mit einem vergleichsweise niedrigen Iridium/Platin‑Verhältnis — passte weder gut zu typischen Meteoritenkompositionen noch zu den erwarteten Signaturen gewöhnlicher Vulkanprodukte. Einige Forscher schlugen daher vor, dass ein ungewöhnlicher, eisenreicher Impaktor die Diskrepanz erklären könnte; andere blieben skeptisch und wiesen auf mögliche terrestrische Prozesse hin, die ähnliche Spuren erzeugen können.
Neue Analysen: Prüfung einer vulkanischen Herkunft
Um die vulkanische Alternative gezielt zu prüfen, sammelten Forschende 17 Bimssteinproben aus Ablagerungen der Laacher‑See‑Eruption in Deutschland. Die Laacher See ist eine große phreatomagmatische Eruption, die in zeitlicher Nähe zum Younger Dryas steht und eine ungewöhnliche geochemische Zusammensetzung aufweist. Durch die Analyse dieser Proben wollte man prüfen, ob die charakteristischen Metallverhältnisse und Spurenmetallkonzentrationen mit dem Grönlandeissignal übereinstimmen könnten.
Die Forscher konzentrierten sich auf Spurenelementanalysen, insbesondere Platin und Iridium, aber auch auf andere seltene Metallgruppen, um ein umfassendes chemisches Profil der Laacher‑See‑Auswurfprodukte zu erstellen. Solche Vergleichsstudien sind notwendig, weil einzelne Elementwerte allein wenig aussagekräftig sind — erst das Muster verschiedener Spurenelementverhältnisse ergibt einen belastbaren Fingerabdruck, der eine Herkunftszuweisung erlaubt.

Probenahme und geochemische Methoden
Die Analysen nutzten hochsensitive Verfahren, die Platin bereits im Sub‑ppm‑Bereich nachweisen können, und quantifizierten gleichzeitig Iridium sowie andere chalcophile Elemente. Zusätzlich revisierten die Wissenschaftler die Chronologien der Eiskerne mit modernen Kalibrierungen und verbliebenen Unsicherheiten, um den zeitlichen Abstand zwischen der Platin‑Anomalie und dem Beginn der Younger‑Dryas‑Abkühlung möglichst präzise zu bestimmen.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Laacher‑See‑Bimse enthielten praktisch kein detektierbares Platin; die gemessenen Werte lagen an oder unterhalb der analytischen Nachweisgrenzen. Damit fällt Laacher See als direkter Lieferant der grönländischen Platin‑Schicht weitgehend aus. Außerdem zeigten die aktualisierten Eiskerndatierungen, dass der Platin‑Peakhöhepunkt ungefähr 45 Jahre nach dem dokumentierten Beginn der Younger‑Dryas‑Abkühlung einsetzte — ein zeitlicher Versatz, der es unwahrscheinlich macht, dass dieses Platinereignis der primäre Auslöser für die Abkühlung war.
Bei der Interpretation wurden Gründe für mögliche Probenkontaminationen, differentiellen Transport und spätere Umschichtungen berücksichtigt; die Studie dokumentiert sorgfältige Kontrollen und Replikationsversuche, um Messartefakte auszuschließen. Solche methodischen Details stärken die Aussagekraft der negativen Befunde für Laacher See als Quelle.
Hinweise auf isländische Spalten- oder Unterwassereruptionen
Wenn Laacher See ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage, welche vulkanischen Prozesse einen kurzzeitigen Platin‑Peak und das ungewöhnliche Iridium‑zu‑Platin‑Verhältnis in Grönlandeis erklären können. Vergleichende Analysen zeigten, dass die beste Übereinstimmung nicht mit primären vulkanischen Gesteinsproben erzielt wird, sondern mit kondensierten gasförmigen Phasen aus Eruptionen, die intensiv mit Wasser interagieren — insbesondere Unterwasser‑ oder subglaziale Ausbrüche.
Solche Wasser‑Magma‑Interaktionen führen zu speziellen chemischen Fraktionen: Beim schnellen Kontakt zwischen Magma und Meerwasser oder Schmelzwasser werden Sulfide und andere flüchtige Sulfverbindungen rasch verändert, und schwerere, chalcophile Elemente können in Gas‑Kondensaten und sehr feinen Aerosolen konzentriert werden. Diese Metall‑reichen Kondensate unterscheiden sich in ihrer Spurenelementzusammensetzung deutlich von typischen subaerialen Vulkanbomben oder Plutonen und können deshalb die auffälligen Verhältnisse erklären, die im Eis beobachtet wurden.
Island erscheint hier besonders relevant. Während einer Entlastungsphase durch Deglaziation sinkt der Druck auf die Kruste; dies fördert Schmelzbildung im oberen Mantel und kann zu längeren, anhaltenden Spalteneruptionen führen. Solche Systeme können Jahre bis Jahrzehnte andauern — Zeiträume, die zu der etwa 14‑jährigen Dauer des Platinpeaks in den Eiskernen passen. Eruptionen unter Wasser oder unter Eis begünstigen die Bildung feiner, metallreicher Partikel und gasförmiger Kondensate, die in die Atmosphäre aufsteigen und über atmosphärische Transportwege bis nach Grönland verfrachtet werden können.

Der atmosphärische Transport umfasst mehrere Schritte: Aufwirbelung in der Umgebung des Vulkans, regionale Verteilung in der Troposphäre, mögliche Injection in die Stratosphäre bei stärkeren Eruptionen und schließlich Langstreckentransport mittels vorherrschender Zirkulationsmuster. Partikelgröße, Aerosolchemie und Injektionshöhe bestimmen wesentlich, wie weit und wie effizient Metall‑relevante Partikel transportiert werden, bevor sie schließlich auf der Eiskappe abgelagert werden.
Historische Präzedenzfälle stützen dieses Mechanismusbild: Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass die Katla‑Eruption des 8. Jahrhunderts in Grönlandeis eine etwa 12 Jahre andauernde Zunahme schwerer Metalle wie Bismut und Thallium hinterließ, während die große Eldgjá‑Eruption im 10. Jahrhundert einen Cadmium‑Anomaly in glazialen Schichten erzeugte. Auch wenn diese Studien Platin nicht explizit gemessen haben, demonstrieren sie, dass isländische Eruptionen episodische Metallpulse nach Grönland transferieren können. Die Ergebnisse legen nahe, dass verschiedene Eruptionsstile — phreatomagmatisch, subglacial oder submarine — spezifische chemische Fingerabdrücke erzeugen können.
Die Hypothese der vulkanischen Kondensate erklärt zudem das ungewöhnliche Iridium‑zu‑Platin‑Verhältnis: Reaktionen mit Meerwasser und die Bildung von speziellen flüchtigen Spezies verändern die Partitionierungskoeffizienten chalcophiler Elemente in den gasförmigen Phasen. Dadurch entstehen Kompositionsmuster, die sich sowohl von gewöhnlichen subaerialen Vulkanprodukten als auch von typischen Meteoritensignaturen unterscheiden.
Folgen für den Auslöser des Younger Dryas
Weil die Platin‑Anomalie zeitlich mehrere Jahrzehnte nach dem Beginn der Younger‑Dryas‑Abkühlung auftritt, ist sie unwahrscheinlich als direkter Verursacher dieses abrupten Klimawandels. Gleichwohl zeigen unabhängig voneinander datierte Eiskerndaten ein großes schwefelreiches vulkanisches Signal genau zum Younger‑Dryas‑Beginn (etwa 12.870 Jahre vor heute). Dieses Schwefelflug‑Signal passt zu einer Injektion von Sulfat in die Stratosphäre, die kurzfristig die globale Einstrahlung reduzieren und so eine abrupte Abkühlung bewirken kann.
Eine große Eruption — sei es von Laacher See, einem bislang nicht identifizierten Vulkanausbruch auf der Nordhalbkugel oder einem Cluster hochbreitengradiger Ausbrüche — könnte die zusätzliche strahlungsphysikalische Forcierung geliefert haben, die nötig war, um ein bereits instabiles Klimasystem in einen stärker vergletscherungsähnlichen Zustand zurückzudrängen. Vulkanische Aerosole mindern die einfallende Sonnenenergie, begünstigen die Ausdehnung von Meereis, verändern atmosphärische Zirkulationsmuster und stören den Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre. Solche Verkettungen von Rückkopplungen können eine anfängliche vulkanische Störung in eine mehrjährige bis jahrzehntelange Abkühlungsphase verstärken.
Die neuen Befunde schwächen somit die spezielle Einschlagserklärung, die auf der Platin‑Spitze basierte, sprechen aber andere Belege für Einschläge — wie Sphären, geschwärzte Bodenschichten („black mats“) oder lokale Schockmerkmale — nicht kategorisch aus. Um die Ursachen des Younger Dryas vollständig zu klären, ist eine integrierte Betrachtung mehrerer Evidenzlinien erforderlich: hochauflösende geochemische Daten, sedimentologische Analysen, paläoökologische Befunde und konsistente Chronologien über verschiedene Regionen hinweg.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
„Die Studie macht deutlich, wie unterschiedlich komplexe Signaturen im geologischen Archiv interpretiert werden können“, sagte Dr. Laura Hayes, Vulkanologin und Paläoklimatologin. „Hochpräzise Spurenelementanalysen und verfeinerte Eiskernchronologien sind fundamental, um zwischen einem exotischen Impaktor und irdischen vulkanischen Prozessen zu unterscheiden. Isländische Spalten‑ und Unterwassereruptionen sind glaubwürdige Quellen für kurzzeitige Metallanomalien in Grönlandeis — und sie erinnern uns daran, dass Vulkanismus, in Abhängigkeit von Zeitpunkt und Hintergrundklima, regional starke klimatische Effekte auslösen kann.“
Schlussfolgerung
Die Neubewertung des Platin‑Peaks im Grönlandeis legt nahe, dass eine vulkanische Herkunft, verwandt mit isländischen Spalten‑ oder untergetauchten Eruptionen, die einfachste und konsistenteste Erklärung für die ungewöhnliche Chemie vor etwa 12.800 Jahren ist. Bimssteinproben von Laacher See zeigen nicht das erforderliche Platinprofil, sodass dieser Ausbruch kaum direkt mit der Eisschicht‑Anomalie verknüpft werden kann. Zudem liegt der Platin‑Peak zeitlich mehrere Dekaden nach dem Beginn der Younger‑Dryas‑Abkühlung, was ihn als primären Auslöser ausschließt.
Dennoch stimmen andere Hinweise auf vulkanischen Schwefel mit einer möglichen vulkanisch getriebenen Störung zum Beginn des Younger Dryas überein. Große Vulkanausbrüche in der Nordhemisphäre — oder mehrere zugleich wirkende Eruptionen in hohen Breiten — bleiben daher eine führende Erklärung für die initiale Abkühlung, möglicherweise kombiniert mit bereits bestehenden ozeanischen und kryosphärischen Schwächen im Klimasystem. Zukünftige Fortschritte erfordern hochauflösende Eiskernanalysen, breitere Spurenelementuntersuchungen an verdächtigen Vulkanablagerungen, verbesserte geochronologische Vernetzung und integrierte Klimamodelle, die die komplexen Effekte vulkanischer Aerosole realistisch abbilden können.
Nur durch interdisziplinäre Forschung — die Geochemie, Vulkanologie, Paläoklimatologie und numerische Modellierung verbindet — lässt sich die Abfolge von Ereignissen, die die Erde in den Younger Dryas geführt hat, vollständig rekonstruieren. Solche Arbeiten liefern nicht nur Erkenntnisse zur Erdgeschichte, sondern auch zur Empfindlichkeit unseres Klimas gegenüber großen, schnellen Störungen.
Quelle: sciencealert
Kommentar hinterlassen