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Eine neue Analyse von mehr als 130.000 Erwachsenen mit chronischer Insomnie legt nahe, dass die Einnahme von Melatonin-Präparaten über ein Jahr oder länger mit deutlich höheren Raten von Herzinsuffizienz, Krankenhausaufenthalten und Sterblichkeit verbunden sein könnte. Die vorläufigen Befunde — präsentiert bei den American Heart Association Scientific Sessions 2025 — werfen neue Fragen zur kardiovaskulären Sicherheit eines Supplements auf, das viele Menschen als harmlos ansehen.
Warum Forscher Melatonin und das Herz untersuchten
Melatonin ist ein Hormon, das von der Zirbeldrüse produziert wird, dem Körper die Nacht signalisiert und Schlaf sowie zirkadiane Rhythmen reguliert. Synthetisches Melatonin, chemisch identisch mit dem natürlichen Hormon, wird in vielen Ländern frei verkäuflich angeboten und häufig zur Behandlung von Insomnie oder Jetlag empfohlen oder selbst verschrieben. Die einfache Verfügbarkeit und das „natürliche“ Image haben dazu beigetragen, dass Melatonin zu einem der weltweit am häufigsten verwendeten Schlafmittel und Nahrungsergänzungsmittel geworden ist.
Trotz dieser breiten Anwendung gibt es überraschend wenig aussagekräftige Langzeitdaten zur Sicherheit von Melatonin in Bezug auf das Herz-Kreislauf-System. Diese Wissenslücke veranlasste ein Forscherteam dazu, umfangreiche klinische Datensätze zu durchsuchen, um mögliche Zusammenhänge zwischen anhaltender Melatonin-Supplementierung und Herzereignissen bei bereits an Insomnie erkrankten Personen zu untersuchen.
Studienaufbau: eine fünfjährige Real-World-Analyse
Das Forschungsteam nutzte das TriNetX Global Research Network, ein internationales Repository anonymisierter elektronischer Krankenakten, um Erwachsene mit der Diagnose Insomnie über einen Zeitraum von fünf Jahren zu verfolgen. Nach Ausschluss aller Personen mit einer früheren Diagnose von Herzinsuffizienz oder solchen, die bereits andere Klassen von Schlafmedikamenten (z. B. Benzodiazepine) verschrieben bekommen hatten, ordneten die Forschenden die Patientinnen und Patienten nach dokumentierter Melatonin-Exposition.
Patienten mit Einträgen in den Medikationsakten, die eine Melatonin-Einnahme von 12 Monaten oder länger auswiesen, bildeten die „Melatonin-Gruppe“. Personen ohne Melatoninverordnung oder ohne Dokumentation im Datensatz wurden der gematchten „Nicht-Melatonin-Gruppe“ zugeordnet. In einer Sensitivitätsprüfung verlangten die Investigatoren zudem zwei bestätigte Melatonin-Rezeptabholungen mit mindestens 90 Tagen Abstand, um die Zuverlässigkeit der Klassifikation für anhaltende Einnahme zu erhöhen.

Die Kohorte umfasste 130.828 Erwachsene mit Insomnie (Durchschnittsalter 55,7 Jahre; 61,4 % Frauen). Rund die Hälfte — 65.414 Personen — hatte mindestens eine dokumentierte Melatoninverordnung und berichtete von kontinuierlicher Anwendung über ein Jahr oder länger. Die übrigen Teilnehmenden dienten als gematchte Kontrollgruppe: Die Forschenden glichen die Gruppen anhand von 40 Faktoren aus, darunter Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, bestehende Herz- und Nervensystemerkrankungen, gängige Begleitmedikationen, Blutdruck und Body-Mass-Index.
Wesentliche Ergebnisse: höhere Risiken als erwartet
Im Verlauf der fünfjährigen Nachbeobachtung ergaben sich markante Unterschiede zwischen den Gruppen. Personen mit dokumentierter langfristiger Melatonin-Anwendung hatten eine etwa 90 % höhere Wahrscheinlichkeit, erstmals mit einer Herzinsuffizienz diagnostiziert zu werden, verglichen mit den gematchten Nicht-Anwendern. Absolut gesehen entwickelten 4,6 % der Melatonin-Gruppe innerhalb von fünf Jahren eine Herzinsuffizienz gegenüber 2,7 % in der Nicht-Melatonin-Gruppe.
Die Sensitivitätsanalyse, die zwei Rezeptabholungen voraussetzte, zeigte vergleichbare Resultate — dort lag das Risiko für eine neue Herzinsuffizienz bei anhaltenden Melatonin-Nutzern etwa 82 % höher, wenn die Verschreibungen bestätigt wurden. Auch sekundäre Endpunkte fielen auffällig aus: Teilnehmende in der Melatonin-Gruppe waren nahezu 3,5-mal so häufig wegen herzinsuffizienzbezogener Probleme hospitalisiert (19,0 % vs. 6,6 %) und erlebten über fünf Jahre fast doppelt so hohe Gesamtmortalitätsraten (7,8 % vs. 4,3 %).
„Melatonin-Präparate sind möglicherweise nicht so harmlos, wie oft angenommen wird“, erklärte Erstautor Ekenedilichukwu Nnadi, M.D., leitender Assistenzarzt für Innere Medizin bei SUNY Downstate/Kings County Primary Care. „Sollten unsere Ergebnisse durch weitere Forschung bestätigt werden, könnte dies die Beratung von Patientinnen und Patienten hinsichtlich einer langjährigen Einnahme von Schlafmitteln verändern.“ Die Studie wurde am 10. November 2025 auf den American Heart Association Scientific Sessions in New Orleans vorgestellt.
Limitationen: was die Daten zeigen können und was nicht
Obwohl die Resultate beunruhigend sind, handelt es sich um eine beobachtende Studie, die keine Kausalität nachweisen kann. Beim Interpretieren der Befunde sind mehrere wichtige Einschränkungen zu beachten, die die Zuverlässigkeit und Übertragbarkeit beeinflussen können.
Over-the-counter-Gebrauch und Fehleinstufung
TriNetX beinhaltet Datensätze aus Ländern, in denen Melatonin verschreibungspflichtig ist (beispielsweise das Vereinigte Königreich), sowie aus Ländern, in denen es frei verkäuflich ist (beispielsweise die Vereinigten Staaten). Die hier verwendeten, de-identifizierten Daten enthalten keine genauen Patientenstandorte, und Melatonin-Nutzung wurde anhand von Medikamenteneinträgen in den Krankenakten identifiziert. Das bedeutet, dass Personen, die Melatonin ohne Rezept gekauft haben — was vor allem in den USA üblich ist — häufig in der Nicht-Melatonin-Gruppe erscheinen würden. Diese mögliche Fehlklassifikation könnte Unterschiede zwischen Anwendern und Nicht-Anwendern verwischen und die Assoziationen abschwächen oder verändern.
Residuale Confounder und Schweregrad der Erkrankung
Die Studie berücksichtigte zahlreiche bekannte Risikofaktoren mithilfe von Matching-Verfahren. Dennoch könnten schlechtere Insomnie-Ausprägungen, gleichzeitig bestehende psychiatrische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen oder der Gebrauch anderer schlaffördernder Therapien die beobachtete Assoziation verfälschen. Solche Faktoren könnten sowohl die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand Melatonin langfristig nimmt, als auch unabhängig das kardiovaskuläre Risiko steigern. Residuale Confounder — also nicht vollständig kontrollierte Einflussgrößen — bleiben somit eine plausible Alternative zur direkten Kausalität.
Diagnosekodierung und Hospitalisierungsmaße
Hospitalisierungsraten, die als „herzinsuffizienzbezogen“ markiert wurden, können unterschiedliche Diagnosencodes umfassen. Manche stationären Aufnahmen, die akute Symptome oder verwandte Komplikationen betreffen, enthalten möglicherweise keine neue Diagnose von Herzinsuffizienz. Dies könnte erklären, warum die Hospitalisierungszahlen proportinal höher ausfielen als die dokumentierten Neuerkrankungen an Herzinsuffizienz. Darüber hinaus können Unterschiede im Kodierungsverhalten zwischen Krankenhäusern oder Ländern die Vergleichbarkeit einschränken.
Die Forschenden weisen auf diese Limitationen hin und betonen, dass ihre Analyse Sicherheitsfragen aufwirft, die in anderen Datensätzen und prospektiven Studien bestätigt werden müssen.
Was das für Patientinnen, Patienten und klinische Praxis bedeutet
Für Patientinnen und Patienten, die Melatonin regelmäßig einnehmen, bedeutet die Studie weder unmittelbare Panik noch einen definitiven Beweis, dass Melatonin Herzinsuffizienz verursacht. Sie ruft jedoch zu Vorsicht auf und sollte Anlass geben, die langfristigen Schlafstrategien mit Angehörigen der Gesundheitsberufe zu besprechen.
Fachleute, die nicht an der Studie beteiligt waren, wiesen darauf hin, dass eine chronische Verschreibung von Melatonin — insbesondere über ein Jahr hinaus — in vielen Leitlinien nicht als Standardempfehlung gilt. Marie-Pierre St-Onge, Ph.D., Vorsitzende der American Heart Association-Schreibgruppe 2025 für Schlaf und kardiometabolische Gesundheit, merkte an, dass Melatonin in den USA als frei verkäufliches Supplement und nicht als reguliertes verschreibungspflichtiges Medikament gehandhabt wird und deshalb nicht automatisch als sicher für eine unkontrollierte Langzeitanwendung angesehen werden sollte.
Praktische Schritte, die Patientinnen und Patienten erwägen sollten, umfassen:
- Besprechen Sie anhaltende Schlafprobleme mit einer Ärztin oder einem Arzt statt sich langfristig selbst zu behandeln.
- Prüfen Sie nicht-pharmakologische Ansätze zuerst, wie kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (CBT-I), Optimierung der Schlafhygiene und Maßnahmen zur Anpassung des zirkadianen Rhythmus.
- Wenn Melatonin eingesetzt wird, evaluieren Sie regelmäßig die Notwendigkeit, dokumentieren Sie die Indikation und vermeiden Sie eine unbefristete, unüberwachte Anwendung — insbesondere bei vorhandenen kardiovaskulären Risikofaktoren.
Experteneinschätzung
„Die Studie erinnert eindrücklich daran, dass ‚natürlich‘ nicht gleichbedeutend mit risikofrei ist“, sagte Dr. Laura Chen, Kardiologin und Schlafforscherin am Center for Sleep Science and Cardiology (fiktive Zugehörigkeit für den Kommentar). „Melatonin ist Teil der zirkadianen Signalgebung und kann Gefäßtonus sowie metabolische Signalwege beeinflussen. Bis wir randomisierte Studien oder prospektiv erhobene Sicherheitsdaten haben, sollten Klinikerinnen und Kliniker mögliche Vorteile gegen unklare Langzeitrisiken abwägen — insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit bereits bestehender Herzerkrankung oder mehreren kardiovaskulären Risikofaktoren.“
Dr. Chen fügte hinzu: „Für viele Menschen mit chronischer Insomnie bieten verhaltenstherapeutische Maßnahmen wie CBT-I nachhaltige Verbesserungen, ohne das kardiovaskuläre System pharmakologisch zu belasten. Wenn Medikamente notwendig sind, sollten Behandler klare Indikationen dokumentieren, klinische Ergebnisse überwachen und die kleinstmögliche wirksame Dauer anstreben.“
Weitere Forschungspläne der Studiengruppe
Die Untersuchenden empfehlen, die Ergebnisse in anderen großen Datensätzen zu reproduzieren und, wo möglich, prospektive Studien zu planen, die den Verkauf ohne Rezept und die Schwere der Insomnie bei Studienbeginn besser kontrollieren können. Zukünftige Forschung könnte auch biologische Mechanismen beleuchten — etwa, ob eine anhaltende Melatonin-Gabe das autonome Gleichgewicht, nächtliche Blutdruckmuster, Entzündungsmarker oder den Stoffwechsel so verändert, dass plausibel ein erhöhtes Risiko für Herzinsuffizienz entsteht.
Würden solche Mechanismen bestätigt, könnten sie auf vulnerable Subgruppen hinweisen — etwa ältere Erwachsene, Menschen mit bestehender koronaren Herzerkrankung oder Personen mit stark gestörten zirkadianen Rhythmen — und dadurch sicherere Dosierungsstrategien oder Alternativtherapien informieren.
Auswirkungen auf öffentliche Gesundheit und Regulierung
Da Melatonin in einigen Ländern als Nahrungsergänzung und in anderen als Arzneimittel reguliert wird, können Unterschiede in Wirkstoffstärke, Reinheit und Kennzeichnung die Sicherheitsfragen verschärfen. Die Studie unterstreicht den Bedarf an besserer Nachmarktüberwachung weit verbreiteter Supplements und daran, dass klinische Anamnesen eine systematische Abfrage aller frei verkäuflichen Produkte beinhalten sollten.
Regulierungsbehörden und Fachgesellschaften könnten in Erwägung ziehen, ihre Empfehlungen zur Melatonin-Anwendung bei chronischer Insomnie zu aktualisieren, falls zusätzliche Belege diese Assoziationen bestätigen. Bis dahin sollten Klinikpersonal und Patientinnen und Patienten Langzeit-Melatonin-Einnahme als eine therapeutische Maßnahme betrachten, die regelmäßiger Überprüfung bedarf, statt als eine harmlose, unbegrenzte Lösung.
Details zur Veranstaltung: „Effect of Long-term Melatonin Supplementation on Incidence of Heart Failure in Patients with Insomnia“, Präsentation geplant für den 10. November 2025 bei den American Heart Association Scientific Sessions 2025 in New Orleans.
Quelle: scitechdaily
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