Chronische Nierenerkrankung: 800 Mio. Betroffene global

Chronische Nierenerkrankung: 800 Mio. Betroffene global

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Eine umfassende weltweite Analyse zeigt, dass die chronische Nierenerkrankung (CKD) still und leise auf fast 800 Millionen Betroffene angewachsen ist. Früher oft in der öffentlichen Gesundheitsplanung vernachlässigt, gehört die eingeschränkte Nierenfunktion heute zu den zehn häufigsten Todesursachen und belastet Gesundheitssysteme zunehmend – besonders in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau.

What the new data reveal

Forscherinnen und Forscher des Global Burden of Disease (GBD) 2023-Konsortiums berichten, dass die Zahl der Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion von etwa 378 Millionen im Jahr 1990 auf rund 788 Millionen im Jahr 2023 gestiegen ist. Dieser Anstieg spiegelt demografische Veränderungen wie Bevölkerungswachstum und globale Alterung wider, signalisiert aber zugleich eine wachsende Prävalenz der wichtigsten Risikotreiber: Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas.

Die Studie — durchgeführt von Teams des NYU Langone Health, der University of Glasgow und des Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington und veröffentlicht in The Lancet — synthetisierte 2.230 Forschungsarbeiten und nationale Gesundheitsdatensätze aus 133 Ländern. Die Kernergebnisse sind deutlich: Chronische Nierenerkrankung liegt inzwischen unter den zehn führenden Todesursachen weltweit, und im Jahr 2023 waren schätzungsweise etwa 1,5 Millionen Todesfälle direkt auf CKD zurückzuführen.

Why kidney disease is under the radar

Nieren verlieren ihre Funktion oftmals schrittweise. In frühen Stadien ist CKD häufig asymptomatisch — Menschen fühlen sich oft gut, während die glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) langsam sinkt. Diese stille Progression erklärt einen großen Teil der Unterdiagnosen: Routinemäßige Urin‑ oder Blutuntersuchungen, die frühe Nierenschäden zeigen (z. B. Albumin-Kreatinin-Verhältnis, ACR, und eGFR-Berechnung), sind in vielen klinischen Umgebungen nicht flächendeckend verfügbar oder werden nicht priorisiert.

„Unsere Arbeit zeigt, dass chronische Nierenerkrankung häufig, tötlich und als öffentliches Gesundheitsproblem auf dem Vormarsch ist“, sagte Josef Coresh, MD, PhD, Direktor des Optimal Aging Institute von NYU Langone. Die Autorinnen und Autoren schätzen, dass weltweit etwa 14 % der Erwachsenen derzeit mit CKD leben. Sinkt die Nierenfunktion weiter, stehen Betroffene möglicherweise vor Dialyse, Nierentransplantation oder vorzeitigen Todesfällen — Folgen, die Familien und Gesundheitssysteme stark belasten.

Die frühzeitige Erkennung von CKD hängt maßgeblich von zwei Messgrößen ab: der Schätzung der glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und dem Nachweis einer Albuminurie durch das Albumin‑Kreatinin‑Verhältnis (ACR). Nach den heute gebräuchlichen Kriterien gelten Werte von eGFR <60 ml/min/1,73 m2 über mindestens drei Monate oder ein erhöhtes ACR (>30 mg/g) als Hinweis auf eine chronische Nierenerkrankung. Die Einordnung in die G‑Stadien (G1–G5) und die Albuminurie‑Kategorien (A1–A3) hilft in Klinik und Forschung, Verlauf und Prognose besser zu unterscheiden.

CKD’s ripple effects on heart health and disability

Über Todesfälle, die direkt auf Nierenversagen zurückgeführt werden, hinaus ist eine eingeschränkte Nierenfunktion ein starker Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die GBD-Analyse schreibt etwa 12 % der weltweiten kardiovaskulären Sterblichkeit reduzierter Nierenfunktion zu. CKD belegte 2023 zudem Platz 12 in der globalen Rangliste der „years lived with disability“ (YLD), was unterstreicht, dass die Erkrankung neben der Lebensverkürzung vor allem die Lebensqualität beeinträchtigt.

Chronische Nierenerkrankung steht in engem, bidirektionalem Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen (CVD). Nierenfunktionsstörungen fördern arterielle Hypertonie, Volumenüberlastung sowie Stoffwechselstörungen, die Myokardschädigungen begünstigen. Umgekehrt erhöhen kardiovaskuläre Erkrankungen und ihre Therapiekomplikationen das Risiko für Nierenfunktionsverlust. Dieses Zusammenspiel erhöht die Krankheitslast und die therapeutische Komplexität in der Versorgung von multimorbiden Patientengruppen.

Major modifiable risks

  • High blood sugar (diabetes)
  • High blood pressure (hypertension)
  • High body mass index (overweight and obesity)

Die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren sind erhöhten Blutzucker bei Diabetes, unbehandelter oder schlecht eingestellter Bluthochdruck und ein hoher Body‑Mass‑Index durch Übergewicht und Adipositas. Die gezielte Intervention bei diesen Faktoren — bessere Diabetesversorgung, konsequente Blutdruckkontrolle, Gewichtsmanagement, Raucherentwöhnung und Salzreduktion — kann die Entstehung sowie das Fortschreiten von CKD maßgeblich reduzieren.

Wichtig ist: Viele Fälle lassen sich früh erkennen, und frühe Maßnahmen sind deutlich kostengünstiger und weniger invasiv als langfristige Dialysebehandlung oder Transplantation. Primärprävention, Screening bei Risikogruppen (z. B. Patienten mit Diabetes oder Hypertonie) und patientenzentrierte Interventionsprogramme reduzieren Mortalität, Morbidität und versorgungsökonomische Belastungen.

Unequal access to lifesaving care

Der Bericht macht die globalen Ungleichheiten bei der Versorgung deutlich. In wohlhabenderen Ländern erhalten verhältnismäßig mehr Menschen, die in ein Nierenversagen übergehen, Dialyse oder Transplantationen. In vielen Teilen Subsahara‑Afrikas, Südostasiens und Lateinamerikas sind Dialyseplätze und Transplantationskapazitäten begrenzt oder finanziell unerschwinglich, sodass viele Patientinnen und Patienten, die diese lebensrettenden Maßnahmen benötigen, keinen Zugang dazu haben.

Diese Ungleichheit spiegelt sich nicht nur in der Verfügbarkeit, sondern auch in Versorgungsqualität, Nachsorge und langfristigem Outcome wider. Fehlende Infrastruktur für Peritonealdialyse oder Hämodialyse, unzureichende Ausbildung von nephrologischem Personal, fehlende Transplantationsprogramme sowie die Kosten für immunsuppressive Medikamente begrenzen die Behandlungsmöglichkeiten in ressourcenarmen Regionen.

„Chronische Nierenerkrankung wird zu selten erkannt und zu wenig behandelt“, so Morgan Grams, MD, PhD, Co‑Leitautorin und Professorin an der NYU Grossman School of Medicine. Sie betonte die Notwendigkeit breitflächiger Urin‑ und Bluttests zur frühzeitigen Identifikation von CKD sowie die Sicherstellung erschwinglicher Therapien, sobald die Diagnose gestellt ist. Gesundheitssysteme brauchen klare Versorgungswege, finanzielle Schutzmechanismen und Kapazitätsaufbau, um Ungleichheiten abzumildern.

Treatment advances and remaining gaps

In den letzten fünf Jahren haben medizinische Fortschritte neue Instrumente geliefert, um das Fortschreiten von CKD zu verlangsamen und das kardiovaskuläre Risiko zu reduzieren. Auffällig ist die Rolle der SGLT2‑Inhibitoren — einer Gruppe blutzuckersenkender Wirkstoffe — die in randomisierten Studien (z. B. DAPA‑CKD, EMPA‑KIDNEY) gezeigt haben, dass sie Nierenfunktionsabfall verlangsamen und das Risiko für Nierenversagen und kardiovaskuläre Ereignisse senken, auch bei Personen ohne Diabetes.

Neben SGLT2‑Inhibitoren spielen RAAS‑Blocker (ACE‑Hemmer, Angiotensin‑Rezeptorblocker) weiterhin eine zentrale Rolle zur Blutdrucksenkung und Reduktion der Proteinurie. Neuere Therapeutika, wie nichtsteroidale Mineralocorticoidrezeptorantagonisten (z. B. Finerenon), zeigen in bestimmten Patientengruppen zusätzliche Vorteile hinsichtlich Nieren‑ und Herzereignissen. Gleichzeitig bleibt die globale Implementierung dieser Therapien heterogen: Kosten, Zulassungsprozesse, Verfügbarkeit in der Primärversorgung und Fachkenntnis der Behandler beeinflussen die Verbreitung.

Zur dialysefreien Versorgung tragen auch nichtmedikamentöse Maßnahmen bei: strukturierte Ernährungsberatung (beispielsweise Salz‑ und Proteinmanagement), Anpassung der Flüssigkeitszufuhr, Impfprävention und rechtzeitige Patientenaufklärung. Bei fortgeschrittener CKD sind Dialyseverfahren wie Hämodialyse und Peritonealdialyse lebensentscheidend; Nierentransplantation bietet in vielen Fällen die beste langfristige Prognose und Lebensqualität, ist aber durch Organknappheit und immunsuppressive Therapieanforderungen limitiert.

Wichtige Politikziele sind daher: Ausweitung präventiver Leistungen (Screening, Blutdruck‑ und Diabetesmanagement), besserer Zugang zu modernen Medikamenten, sowie Aufbau erschwinglicher Dialyse‑ und Transplantationsinfrastruktur in ressourcenarmen Settings. Die Weltgesundheitsorganisation hat CKD in ihre Strategie zur Reduktion vorzeitiger Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten aufgenommen — ein Schritt, der die Verflechtung von Nierengesundheit mit umfassenderen globalen Gesundheitszielen anerkennt.

Expert Insight

Dr. Elena Ruiz, Nephrologin und Forscherin im Bereich globale Gesundheit, gibt eine praxisorientierte Einschätzung: „Die Erkennung ist das niedrig hängende Obst — einfache Urinuntersuchungen und die Berechnung der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) identifizieren die Mehrheit der gefährdeten Patientinnen und Patienten. Wenn Gesundheitssysteme Screening in Diabetes‑ und Hypertoniekliniken priorisieren, können wir verhindern, dass viele Menschen je eine Dialyse benötigen.“

Sie ergänzt, dass Interventionen auf Gemeindeebene — Aufklärung zur Salzreduktion, Bereitstellung erschwinglicher Medikamente gegen Bluthochdruck und frühe Überweisungswege zu nephrologischen Zentren — zu den wirkungsstärksten und kosteneffizientesten Maßnahmen gehören, die Länder umsetzen können. Solche Community‑basierten Ansätze fördern außerdem Gesundheitskompetenz und frühzeitige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.

Policy implications and next steps

Für politische Entscheidungsträger ist der Bericht ein dringender Appell: Behandeln Sie CKD mit der gleichen Priorität wie andere große nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs oder Herzerkrankungen. Investitionen in die Primärversorgung, Gewährleistung des universellen Zugangs zu essenziellen Medikamenten und die Schaffung gerechter Dialyse‑ und Transplantationsangebote sind entscheidend. Zudem brauchen Forschungsorganisationen und Gesundheitsbehörden bessere Daten aus bislang unterrepräsentierten Regionen, um Belastungsschätzungen zu präzisieren und Interventionen zielgenau zu planen.

Auf Programmebene empfiehlt sich ein mehrstufiger Ansatz: (1) Routinemäßiges Screening bei Risikopersonen, (2) Standardisierung von Diagnosekriterien und Datenmeldungen, (3) Integration moderner Medikamentenoptionen in nationale Listen essenzieller Arzneimittel, (4) Förderung kosteneffizienter Dialysemodelle (z. B. Heimperitonealdialyse), und (5) Ausbau von Transplantationsnetzwerken plus finanzielle Absicherung für immunsuppressive Therapien.

Die GBD‑2023‑Ergebnisse beeinflussen bereits die Agenda globaler Gesundheitsforen und dürften in den kommenden Jahren nationale Strategien prägen. Für Einzelpersonen lautet die Botschaft klar: Kontrollieren Sie Ihren Blutzucker, halten Sie einen gesunden Blutdruck, achten Sie auf ein gesundes Körpergewicht und sprechen Sie mit Ärztinnen und Ärzten über routinemäßige Nierenscreenings bei vorhandenen Risikofaktoren. Frühzeitige Erkennung rettet Leben und entlastet langfristig Gesundheitssysteme erheblich.

Methodisch stützt sich die GBD‑Analyse auf die Kombination von Primärdaten (z. B. nationale Umfragen, Registerdaten), Literaturdaten und computergestützten Modellen, die Alters‑, Geschlechts‑ und Regionsstrukturen berücksichtigen. Trotz der Breite der Daten gibt es Einschränkungen: In Regionen mit lückenhaften Gesundheitsdaten können Modellschätzungen größere Unsicherheiten aufweisen. Daher ist der Ausbau qualitativ hochwertiger epidemiologischer Studien und nationaler Gesundheitsstatistiken eine zentrale Forschungspriorität.

Zusammenfassend erfordert die wachsende Belastung durch CKD ein integriertes Vorgehen: Prävention, frühzeitige Diagnose, breiter Zugang zu bewährten Therapien, Kapazitätsaufbau in der nephrologischen Versorgung und politische Maßnahmen zur sozialen Absicherung der Betroffenen. Durch koordinierte Anstrengungen lassen sich die gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen chronischer Nierenerkrankung erheblich reduzieren.

Quelle: scitechdaily

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