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Neuer Biomarker verbindet Zehennägel mit unsichtbarem Radonrisiko
Radon, ein farb- und geruchloses radioaktives Gas und nach dem Tabakkonsum die zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs, kann sich in Innenräumen anreichern und erhebliche Gesundheitsrisiken bergen. Ein multidisziplinäres Team der University of Calgary hat einen einfachen, nicht-invasiven Biomarker entwickelt: die Messung von winzigen Mengen radioaktiven Bleis in Zehennagelabschnitten zur Quantifizierung der langfristigen Radonexposition einer Person. Dieser Ansatz könnte Personen mit erhöhtem Lungenkrebsrisiko identifizieren, die in aktuellen Screeningprogrammen nicht erfasst werden, weil sie Nichtraucher, Exraucher oder nur Gelegenheitsraucher sind.
Die Möglichkeit, eine Blut- oder Urinanalyse durch eine nahezu schmerzfreie Nagelprobe zu ergänzen, eröffnet neue Optionen für die Umweltmedizin. Solche Biomarker sind besonders relevant dort, wo geologische Bedingungen, Gebäudetechnik und Wohnverhalten zusammenwirken und klassische Messprogramme unvollständig bleiben. Durch die Kombination aus einfacher Probengewinnung und empfindlicher Isotopenanalyse lassen sich langfristige Expositionsmuster retrospektiv rekonstruieren.
Wissenschaftlicher Hintergrund: Warum Radon wichtig ist
Radon (Rn) entsteht natürlich durch den Zerfall von Uran und Thorium im Boden und Gestein. Im Freien verdünnt es sich rasch, doch in schlecht belüfteten Innenräumen kann es sich konzentrieren – etwa in älteren Gebäuden, in kalten Klimazonen oder in Häusern mit bestimmten Baustoffen wie Alum-Schiefer-Beton, Phosphorgips oder bestimmten Tuffen, die Radon freisetzen. Auch Grundwasser in uranreichen Regionen kann Radon ins Wohnumfeld transportieren. Da die Exposition stark von lokaler Geologie, Bauweise und Nutzungsverhalten abhängt, wissen viele Menschen nichts von ihrer kumulativen Belastung.
Beim Einatmen zerfällt Radon zu kurz- und langlebigen radioaktiven Nachfolgeprodukten, darunter das Isotop Blei-210 (210Pb). Der Körper behandelt dieses Blei ähnlich wie andere Bleispezies und lagert es in Geweben ab, die nur langsam abgestoßen werden – etwa Haut, Haare und Nägel. Über die Zeit archivieren diese Gewebe die integrierte Expositionsgeschichte einer Person, wodurch sie sich als Zielstrukturen für retrospektive Umweltüberwachung anbieten.
Das Verständnis dieser biologischen Einlagerung ist wichtig für die Interpretation von Messwerten: Nägel wachsen langsam und werden nur periodisch abgeschnitten, weshalb sie mittelfristige bis langfristige Expositionsfenster abbilden können. Im Gegensatz zu kurzlebigen Biomarkern in Blut oder Urin reflektieren Nagelproben kumulative Belastungen über Jahre hinweg.

Studienaufbau und analytische Methode
Die Machbarkeitsstudie wurde von Biochemiker Aaron Goodarzi und Physiker Michael Wieser geleitet. Das Team sammelte 55 Zehennagelproben und koppelte diese an langjährige häusliche Radonmessungen. Mit ultrasensitiven Isotopendetektionstechniken quantifizierten sie winzige Mengen an 210Pb relativ zu stabilem Blei im Nagelmaterial, um so die lebenslange Radonexposition zu rekonstruieren.
Die analytische Arbeit erforderte eine sorgfältige Laborvorbereitung: Reinigung der Nägel zur Entfernung äußerer Kontamination, chemische Aufschlussverfahren und anschließend massenspektrometrische oder radiometrische Nachweisverfahren mit sehr niedrigen Nachweisgrenzen. Solche Methoden erlauben die Bestimmung von Femto- bis Attogramm-Mengen und sind erforderlich, weil die in Nägeln gespeicherten 210Pb-Mengen äußerst gering sind.
Wesentliche methodische Schritte umfassten standardisierte Probennahmeprotokolle, Kontrollen für mögliche externe Verunreinigungen (z. B. kosmetische Produkte, Fußbäder) sowie kalibrierte Referenzmaterialien für stabile Blei-Isotope. Die Kombination von Umwelldaten (hausinterne Radonmessungen) und biologischen Messwerten stärkt die Validität der Interpretation.
Wesentliche Messgrößen
- 210Pb, das Bleisotop aus dem Radonzerfall, war in 39 von 55 Zehennägeln (71 %) nachweisbar.
- Teilnehmer mit erhöhtem häuslichem Radon über durchschnittlich 26,5 Jahre wiesen etwa 0,298 Femtogramm 210Pb pro Nanogramm stabilem Blei in den Nägeln auf.
- Teilnehmer mit niedriger Exposition zeigten etwa 0,075 Femtogramm pro Nanogramm – ein Unterschied von rund 397 % zwischen den Gruppen.
Diese Werte deuten auf ein starkes, messbares Signal langfristiger Radonexposition hin, das in Nagelgewebe gespeichert ist. Bemerkenswert ist, dass erhöhte 210Pb-Werte bei einigen Personen bis zu sechs Jahre nach einer Radonsanierung im Haushalt nachweisbar blieben. Das spricht dafür, dass Zehennägel Expositionen über mehrjährige Zeitskalen integrieren und somit retrospektiv aussagekräftig sein können.
Statistische Analysen berücksichtigten mögliche Störfaktoren wie Alter, Geschlecht, berufliche Expositionen, frühere Raucherhistorie und geographische Variationen. Multivariate Modelle zeigten, dass der Zusammenhang zwischen häuslicher Radonbelastung und Nagel-210Pb bestehen blieb, auch nachdem diese Kovariablen kontrolliert wurden. Solche Analysen sind entscheidend, um die Spezifität des Biomarkers gegenüber anderen Bleiquellen zu sichern.
Folgen für Lungenkrebs-Screening und öffentliche Gesundheit
Aktuelle Leitlinien für das Lungenkrebs-Screening priorisieren Personen mit intensiver Raucherbiografie, sodass viele radonexponierte, aber wenig oder nicht rauchende Personen von Screenings ausgeschlossen bleiben. Ein validiertes Nagel-Assay könnte Klinikern helfen, objektiv Personen mit signifikanter kumulativer Radonbelastung zu identifizieren, die von gezielter Überwachung oder einem Low-Dose-CT-Screening profitieren könnten.
Über das Screening hinaus könnte ein zuverlässiger biologischer Marker epidemiologische Studien verbessern, Sanierungsprioritäten informieren und die Öffentlichkeitsarbeit in geologisch gefährdeten Regionen unterstützen. Zudem ließe sich die Methode zur Bewertung beruflicher Expositionen nutzen – etwa für Beschäftigte, die längere Zeit in älteren Gebäuden oder bestimmten Wohnumgebungen verbringen.
Die Einführung eines solchen Biomarkers in öffentliche Gesundheitsprogramme würde standardisierte Sammelprotokolle, qualitätskontrollierte Labore und klar definierte Handlungsgrenzen erfordern. Politische Entscheidungsträger müssten empirisch begründete Schwellenwerte und klinische Empfehlungen festlegen, um Konsequenzen aus einem erhöhten Nagel-210Pb-Wert sinnvoll zu steuern.
Ein weiterer Nutzen liegt in der Prävention: Wenn Risikogruppen objektiv identifiziert werden können, lassen sich Sanierungsmaßnahmen gezielter planen – etwa durch Priorisierung von Häusern mit hohem Risiko, staatliche Förderprogramme für Radonreduzierung oder Beratung für bauliche Veränderungen und Lüftungstechnik. Langfristig könnten dadurch Lungenkrebsfälle reduziert und Ressourcen effizienter eingesetzt werden.
Wirtschaftliche Aspekte sind ebenfalls relevant: Niedrigschwellige Probenahmen reduzieren logistische Barrieren und können die Teilnahmebereitschaft erhöhen. Gleichzeitig müssen Kosten für hochsensitive Analysen, Laborinfrastruktur und Qualitätsmanagement einkalkuliert werden. Ökonomische Evaluationen helfen, die Kosteneffektivität eines Nagel-basierten Screenings gegenüber alternativen Strategien zu bewerten.
Expertinnen- und Experteneinschätzung
„Ein nagelbasiertes Assay schließt eine wichtige Lücke zwischen Umweltüberwachung und klinischer Risikobewertung“, sagt Dr. Lina Torres, Umwelt-Epidemiologin (fiktional), die nicht an der Studie beteiligt war. „Da die Radonexposition von Geologie und Wohncharakteristika abhängt und nicht primär von individuellem Verhalten, kann ein objektiver Biomarker verborgene Risiken aufdecken und Ärzten helfen, Screenings auch Personen anzubieten, die sonst übersehen würden.“
Dr. Torres ergänzt, dass die Integration dieses Biomarkers in öffentliche Gesundheitsprogramme standardisierte Erhebungsprotokolle, akkreditierte Laboratorien und klare Aktionsschwellen erfordern würde, die an klinische Empfehlungen gebunden sind. Außerdem müssten ethische Aspekte bei der Kommunikation von individuellen Expositionsergebnissen bedacht werden.
Weitere Fachmeinungen betonen die Bedeutung einer sorgfältigen Validierung über unterschiedliche Populationen, Altersgruppen und geographische Regionen hinweg. Nur so lässt sich die Übertragbarkeit des Assays auf internationale Kontexte nachweisen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Geologen, Epidemiologen, Laborwissenschaftlern und klinischen Fachleuten ist für die Implementierung unabdingbar.
Schlussfolgerung
Die Untersuchung der University of Calgary zeigt, dass Zehennagelabschnitte als quantitative, retrospektive Messgröße für die lebenslange Radonexposition dienen können, indem das Zerfallsprodukt 210Pb nachgewiesen wird. Mit weiterer Validierung könnte dieser minimalinvasive Biomarker das Lungenkrebs-Screening auf Bevölkerungsgruppen ausdehnen, die derzeit aufgrund rauchbedingter Kriterien ausgeschlossen sind, Sanierungsmaßnahmen besser steuern und radonbezogene Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen stärken.
Laufende groß angelegte Studien werden die Sensitivität, Spezifität und die praktische Anwendbarkeit des Assays in verschiedenen demografischen Gruppen und Wohnverhältnissen bestimmen. Sollten die Ergebnisse reproduzierbar sein, könnte ein Zehennagel-basiertes Testsystem ein valides Instrument für die Umweltgesundheit werden und zu einer gerechteren Prävention von radonassoziiertem Lungenkrebs beitragen.
Wichtig ist, dass dieses Verfahren nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage dienen sollte, sondern als ergänzender Baustein in einem umfassenden Risikomanagement, das auch direkte Radonmessungen, bauliche Bewertungen und klinische Risikofaktoren berücksichtigt. Nur durch eine integrierte Strategie lassen sich individuelle Risiken zuverlässig einschätzen und wirksame Präventionsmaßnahmen umsetzen.
Quelle: sciencealert
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