Herzinfarkt bei jungen Frauen: Ursachen jenseits der Plaque

Herzinfarkt bei jungen Frauen: Ursachen jenseits der Plaque

Kommentare

8 Minuten

Neue Auswertung der Mayo Clinic stellt eine lange vorhandene Annahme zu Herzinfarkten bei jüngeren Erwachsenen infrage: Bei Frauen unter 65 Jahren werden mehr als die Hälfte der Myokardinfarkte durch andere Ursachen als die klassische verschlossene Koronararterie ausgelöst. Dieser Wandel hat weitreichende Folgen für Diagnose, Prävention und Nachsorge.

Was die Studie herausfand und warum es wichtig ist

Die Forschenden analysierten 1.474 dokumentierte Infarkt-Ereignisse aus dem Zeitraum 2003 bis 2018 im Olmsted County, Minnesota. Dabei wurden Krankenakten und kardiale Bildgebung sorgfältig neu beurteilt, um jedem Ereignis eine primäre Ursache zuzuordnen. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Während die Atherothrombose – jener Prozess, bei dem eine eingerissene Plaque einen Thrombus auslöst, der eine Koronararterie verschließt – weiterhin die Mehrzahl der Herzinfarkte bei Männern erklärt (etwa 75 %), machte sie nur 47 % der Fälle bei Frauen unter 65 Jahren aus.

Stattdessen war bei einem großen Anteil der weiblichen Infarkte ein nicht-atherothrombotischer Mechanismus beteiligt. Die größte einzelne Kategorie bei Frauen war das sogenannte Supply–Demand-Mismatch-Myokardinfarkt-Syndrom (SSDM), verantwortlich für rund 34 % der weiblichen Fälle. SSDM tritt auf, wenn der Sauerstoffbedarf des Herzmuskels die Versorgung übersteigt, ausgelöst durch einen akuten Stressor wie schwere Anämie, Sepsis, respiratorisches Versagen, schwere Hypotonie oder anhaltende Tachykardie.

Weitere relevante nicht-atherothrombotische Ursachen waren die spontane Koronardissektion (SCAD) – bei der die Gefäßwand reißt und sich Blut zwischen den Wandschichten sammelt – sowie Embolien, bei denen an anderer Stelle gebildete Thromben in ein Koronargefäß verschleppt werden. Das Team identifizierte darüber hinaus Koronarspasmen und MINOCA (Myokardinfarkt mit nicht-obstruktiven Koronararterien) als wichtige Beiträge zur Krankheitslast. Zur fundierten Diagnose wurden neben Koronarangiographie auch erweiterte Verfahren wie intravaskuläre Bildgebung (IVUS, OCT) und kardiale Magnetresonanztomographie (cMRI) herangezogen, was zu einer präziseren Zuordnung der Mechanismen beitrug.

Alters- und Geschlechtsunterschiede: Ein anderes Bild bei jüngeren Frauen

Die geschlechtsbezogenen Unterschiede zeigten sich besonders deutlich in der jüngsten Altersgruppe. Unter Frauen im Alter von 45 Jahren und jünger war SSDM die häufigste Ursache eines Herzinfarkts. Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass, wenn man alle akuten nicht-atherothrombotischen Koronarursachen – SCAD, Embolie, Spasmus und nicht näher definierte MINOCA-Fälle – zusammenfasst, diese bei dieser Demografie in etwa so häufig sind wie Atherothrombosen.

Von besonderer Bedeutung ist, dass viele SCAD-Ereignisse zunächst als Atherothrombose fehlgedeutet wurden. Die Studie ergab, dass SCAD fast sechsmal so häufig die zugrunde liegende Ursache bei Frauen war wie zuvor angenommen. Das hat klinische Relevanz: Patientinnen mit SCAD könnten Therapien erhalten haben, die für Plaquerupturen gedacht sind – Maßnahmen, die bei einer Gefäßwanddissektion nicht nur unwirksam, sondern potenziell schädlich sein können. Beispielsweise kann die interventionelle Stent-Implantation bei SCAD technisch schwierig und riskant sein; oft ist eine konservative, konservierende Behandlung besser geeignet.

Folgen für Therapie und Prävention

Wird der Mechanismus der Schädigung missverstanden, können Strategien der Sekundärprävention fehlgehen. Standardprotokolle, die auf Plaquestabilisierung und Thrombozytenaggregationshemmung abzielen, sind bei atherothrombotischen Infarkten essentiell, greifen jedoch bei SSDM nicht das auslösende Problem an, und sie adressieren nicht die Gefäßfragilität, die SCAD zugrunde liegen kann. Diese Diskrepanz beeinflusst die Wahl von Medikamenten, interventionelle Strategien und die Empfehlung für weiterführende diagnostische Untersuchungen.

Die Studie verknüpft SSDM zudem mit einer höheren Fünfjahres-Gesamtmortalität im Vergleich zu anderen Ursachen. Das spricht dafür, dass diese Patientinnen und Patienten häufig schwerwiegende nicht-kardiale Begleiterkrankungen haben, die sowohl das akute Ereignis als auch spätere Sterbefälle antreiben – etwa schwere Infektionen, hypovolämische Zustände, chronische Lungenerkrankungen oder hämatologische Erkrankungen. Daraus folgt, dass eine ganzheitliche Versorgung nötig ist, die den kardialen Vorfall und die zugrunde liegenden systemischen Erkrankungen gleichermaßen adressiert.

Aus kardiologischer Sicht bedeutet das: Individualisierte Therapiekonzepte statt Einheitsstrategien. Bei Atherothrombose bleiben Statine, Blutverdünnung und gegebenenfalls Revaskularisierung zentrale Maßnahmen. Bei SSDM ist hingegen die Behandlung der zugrundeliegenden Ursache (z. B. Transfusion bei kritischer Anämie, antimikrobielle Therapie bei Sepsis, respiratorische Unterstützung) oft vorrangig. Bei SCAD empfehlen aktuelle Expertenmeinungen häufig einen konservativen Ansatz mit engmaschiger Überwachung, Betablockern und Vermeidung unnötiger invasiver Eingriffe, sofern die hämodynamische Lage stabil ist.

Screening-Lücken: Warum Risikowerte nicht ausreichen

Gängige Risikoscores können das tatsächliche Risiko weiter verschleiern. In einer separaten Analyse, die von den Autoren zitiert wird, wurden 465 Personen unter 65 Jahren, die später einen ersten Herzinfarkt erlitten, rückblickend betrachtet: Zwei Tage vor dem Ereignis wären fast 45 % von ihnen nach einem ASCVD-Score (atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung) als niedrig oder grenzwertig eingestuft worden. Anders ausgedrückt: Routinemäßige Risikokalkulatoren, die auf atherothrombotische Erkrankungen ausgerichtet sind, übersehen viele Menschen, die später Infarkte durch andere Mechanismen erleiden.

Das hat Konsequenzen für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten: Ein niedriger traditioneller Risikoscore schließt nicht aus, dass andere, potentiell schwerwiegende Ursachen für einen Myokardinfarkt vorliegen – insbesondere bei jüngeren Frauen. Daher ist eine differenzierte Anamnese, gezielte Bildgebung und das Abwägen atypischer Ursachen entscheidend. Ergänzende Untersuchungen wie Langzeit-EKG, transösophageale Echokardiographie zur Embolieursachensuche, Screening auf Thrombophilien oder bildgebende Verfahren zum Ausschluss einer Fibromuskulären Dysplasie können in ausgewählten Fällen sinnvoll sein.

Worauf Kliniker achten sollten

  • SSDMS in Betracht ziehen bei Patientinnen und Patienten mit akutem systemischem Stress (schwere Infektion, massive Blutung, Hypoxie, schwere Herzrhythmusstörungen), die eine kardiale Ischämie entwickeln, trotz nicht-obstruktiver Koronararterien. In solchen Fällen muss die Behandlung primär die auslösende Erkrankung adressieren.
  • Bei jüngeren Frauen mit akuten Koronarsymptomen erhöhte Aufmerksamkeit für SCAD: Besonders dann, wenn die Angiographie ungewöhnliche Dissektionen, longitudinale Blutansammlungen in der Gefäßwand oder atypische Muster zeigt. Hinweise auf Fibromuskuläre Dysplasie, die peripartale Phase oder hormonelle Faktoren sollten erfragt werden.
  • Embolische Quellen abklären (Vorhofflimmern, Endokarditis, tiefe Venenthrombose mit paradoxalem Embolus über ein persistierendes Foramen ovale), wenn die Koronarokklusion nicht zu einem klassischen Plaquerupturmuster passt. Transösophageale Echo- und transkatheterale Untersuchungen können hier entscheidend sein.
  • Erweiterte kardiale Bildgebung (cMRI zur Myokardcharakterisierung) und multidisziplinäre Fallbesprechungen einsetzen, wenn die Ursachen unklar sind, um Fehlklassifikationen zu vermeiden und unangemessene Therapien zu verhindern. Intravaskuläre Bildgebung (OCT/IVUS) kann Plaqueruptur von SCAD unterscheiden und die Therapieplanung beeinflussen.

Experteneinschätzung

„Diese Studie ist ein Weckruf,“ sagt Dr. Elena Martinez, Kardiologin und klinische Forscherin, die nicht an der Mayo Clinic-Analyse beteiligt war. „Wir haben lange auf das atherothrombotische Modell vertraut, weil es einen großen Teil der Herzinfarkte erklärt, doch jüngere Frauen präsentieren sich anders. Wenn Kliniker automatisch die Plaqueruptur als Ursache annehmen, können behandelbare nicht-koronare Ursachen übersehen werden und Präventionsstrategien bleiben unangepasst. Bessere Bildgebung, gründliche Anamnese und das Bewusstsein für Entitäten wie SCAD und SSDM können die Ergebnisse deutlich verbessern.“

Wohin Forschung und Praxis als Nächstes gehen sollten

Das Team der Mayo Clinic fordert eine verstärkte Sensibilisierung von Ärztinnen und Ärzten sowie öffentliche Aufklärung über alternative Ursachen von Herzinfarkten. Außerdem empfehlen die Forschenden, den detaillierten Adjudikationsansatz auf größere und diversere Populationen anzuwenden, um Geschlechts- und Altersunterschiede besser zu verstehen und diagnostische Wege zu verfeinern, die Fehldiagnosen reduzieren.

Verbesserungen in der kardialen Bildgebung während des Studienzeitraums haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass einige dieser Diagnosen sichtbarer wurden. Fortschritte in OCT, IVUS, cMRI und auch in der KI-gestützten Bildanalyse sollten die Erkennung weiter verbessern. Parallel dazu müssen Forschende und Fachgesellschaften Leitlinien und Aus- und Weiterbildung überarbeiten, damit Kardiologinnen und Kardiologen, Notfallmedizinerinnen und -mediziner sowie Hausärzte nicht-atherothrombotische Präsentationen frühzeitig erkennen.

Weitere wichtige Forschungsfelder sind prospektive Register, die SCAD-, SSDM- und MINOCA-Patientinnen und -Patienten spezifisch erfassen, Studien zur optimalen medikamentösen Therapie bei nicht-atherothrombotischen Ursachen und Untersuchungen zu genetischen und hormonellen Einflussfaktoren, die bei jüngeren Frauen eine Rolle spielen könnten. Ebenso erforderlich sind Programme zur Patientinnenaufklärung und zur Rehabilitation, die psychosoziale Aspekte, sexuelle Gesundheit und Familienplanung berücksichtigen.

Zu verstehen, warum ein Herzinfarkt aufgetreten ist, ist mindestens so wichtig wie dessen Behandlung. Für jüngere Frauen kann dieses Verständnis andere Untersuchungen, andere Medikamente und – entscheidend – andere Gespräche über Risiko, Prognose und Wiederherstellung bedeuten. Eine individualisierte Kommunikation über Risikofaktoren und Maßnahmen zur Rückfallverhütung stärkt zudem die Patientenautonomie und verbessert die Adhärenz.

Die Studie wurde im Journal of the American College of Cardiology veröffentlicht; eine frühere Fassung dieses Artikels erschien im September 2025.

Quelle: sciencealert

Kommentar hinterlassen

Kommentare